Dario Fo / Franca Rame

Lügen und halbe Wahrheiten

In einigen Wochen wird das Oberste Mailänder Gericht über den Revisionsantrag der Verteidigung im Prozeß gegen Sofri-Pietrostefani-Bompressi (die zu 21 Jahren verurteilt wurden) entscheiden. Wir wollen die Revisionsverhandlung des fraglichen Verfahrens auf die Bühne bringen, um das Publikum, vor allem die Jugend, über die Fakten und den Ablauf der Ereignisse zu unterrichten, die die Justiz veranlaßt haben, die drei Mitstreiter von Lotta Continua einzusperren.

Zunächst haben wir nicht nur juristische Erkundigungen eingezogen, sondern uns auch an den Universitäten darüber informiert, wie weit die Studenten informiert sind in dieser Sache. Verblüfft und auch betrübt mußten wir feststellen, daß sie weder die speziellen Ereignisse kannten noch die Geschichte der letzten dreißig Jahre.

Sie wissen nichts über das Klima von 1968, die Strategie der Spannung, die Attentate, die Verhaftung der Anarchisten und nichts über Pinelli, der aus einem Fenster des Polizeipräsidiums fiel. Unbekannt ist ebenso, daß nicht nur die Geheimdienste, sondern auch organisierte Faschisten und Beamte verschiedener Polizeieinheiten als Provokationsagenten und Gehilfen an den Massakern beteiligt waren. Als wir ihnen dann von den widersprüchlichen Versionen erzählten - der Darstellung der Polizei und der 18 Jahre späteren Darstellung des Kronzeugen Marino (ursprünglich Aktivist von Lotta Continua) -, fielen sie buchstäblich aus allen Wolken.

Alles das hat uns veranlaßt, die Geschichte des Verfahrens in Form eines Dokumentarspiels nachzuerzählen. Wir verwenden dazu Fernsehschirme, Pappfiguren, die die Protagonisten darstellen, Marionetten, Modelle der Autos, die von den Killern verwendet wurden, Pläne der Straßen und Gebäude, wo die Verbrechen stattgefunden haben etc. Vor allem die Gespräche der Prozeßbeteiligten werden mit größtmöglicher Genauigkeit nachgespielt. Dennoch werden wir uns bemühen, das Ganze mit Leichtigkeit darzustellen. Das dürfte nicht weiter schwer sein, dank der grotesken und schwachsinnigen Dialoge, die zwischen Marino, dem öffentlichen Ankläger, den übrigen Zeugen und den Richtern in den diversen Prozessen stattgefunden haben. Wir brauchen die Originaltöne nicht einmal zu forcieren, um eine Reihe unterhaltsamer Farcen zu produzieren.

Es gibt Gags, Verwechslungen, Personen, die plötzlich auftauchen und wieder verschwinden oder sich verdoppeln, Tote, die als Zeugen aussagen, und Lebende, die regelrecht aus dem Verzeichnis der Lebenden gestrichen werden. Autos tauchen auf und werden wieder beseitigt mit einem Eimerchen Farbe. Es gibt unerhörte Lügen, die von den Richtern als unumstößliche Wahrheiten hingenommen werden, und heilige Wahrheiten, die wie Seifenblasen zerplatzen.

Ihr werdet also einem typischen Inquisitionsprozeß mit den üblichen gerichtlichen Gaunereien beiwohnen. Richter im Talar, die die Laienrichter erpressen und belügen, falsche Aussagen zu Protokoll nehmen und Zeugenaussagen verfälschen.

Kurz und gut, wir fordern Euch auf, dieses komische Verwirrspiel über den Ablauf des "wahren" Prozesses gegen Sofri nicht zum Anlaß zu nehmen, mit uns in den Ruf auszubrechen: "Laßt Marino frei! Marino ist unschuldig!"