Melodien für Neurosen

Lebensmotti aus der Schlagerparade - Alain Resnais' "Das Leben ist ein Chanson"

Mal ganz unter uns: Das Leben ist gar kein Chanson, und Alain Resnais' neuer Film mit dem Originaltitel "On conna"t la chanson" ("Man kennt das Lied") ist auch kein Musical. Ich würde das gar nicht erwähnen, wenn der Regie-Streich Resnais' nicht für einige Mißverständnisse gesorgt hätte, seit er auf der diesjährigen Berlinale in Deutschland vorgestellt wurde. Dabei sollte man sich vielleicht einfach nicht drum kümmern, wenn wieder einer von Resnais' neuem "Musical", seiner "leichten Beziehungskomödie" oder - gönnerhaft - von seinem ersten Mainstreamerfolg spricht, und sich verdammt noch mal nicht drüber aufregen, wenn andere die Unverschämtheit besitzen, zu behaupten, der Film sei formalistisch oder "hoffnungslos künstlich, schnödes Klischee, Unterhaltungskultur" (Zeit).

Schließlich ist man mit dem Regisseur während seiner langen Karriere noch niemals besonders freundlich umgegangen. Anders als seine frühere als "schwer zugänglich" oder eben "formalistisch" deklarierte Filmkunst läßt sich der neue Resnais aber (zumindest in Frankreich) nicht so einfach in die Programmkinos abdrängen, auch kann man den Stoff schwerlich wegen einer politischen Provokation ablehnen (wie "Hiroshima - mon amour", den KZ-Film "Nacht und Nebel" oder "La guerre est fini"). Wie die deutsche Kritik beweist, kann man den Film aber immer noch kaputtloben oder umgekehrt: ihm die Abkehr von der alten Linie vorwerfen.

Eins ist so wenig berechtigt wie das andere: Auch wenn dies Resnais' kommerziell erfolgreichster Film ist (mehr als zwei Millionen Franzosen haben ihn bereits gesehen) und frohlockende Feuilletonisten sich der Einbildung hingeben, der 76jährige Nouvelle Vague-Altmeister habe nun doch noch seine Liebe zur leichten Muse entdeckt, so hat der das avantgardistische und gesellschaftskritische Projekt seiner früheren Filme in Wirklichkeit nicht aufgegeben.

Mit "Das Leben ist ein Chanson" wagt er ein fürs Kino neues Regie-Experiment: Unvermittelt werden Chansonfetzen im Playbackverfahren in die Handlung eingebaut. Wenn in der Anfangssequenz Hitlers beleibter Statthalter in Paris den Befehl erhält, die "Stadt der Liebe" zu zerstören, und daraufhin mit der Stimme von Josephine Baker die melancholische Schnulze "J'ai deux amours" anstimmt, dann gelingt damit nicht nur ein komischer Effekt. Die Szene signalisiert, welche Funktion die eingespielten Chansonklassiker von Charles Aznavour bis France Gall in der eigentlichen Filmhandlung erfüllen: Immer wenn einer der sechs zentralen Figuren, allesamt Stadtneurotiker im modernen Paris, eine Schlagerphrase in den Kopf kommt und sie diese beiseite, im Selbstgespräch oder als Fortsetzung eines Dialogs, trällert, dann gaukelt sie sich selbst etwas vor und flüchtet vor der Wahrheit ins Klischee. Nicht der Regisseur lügt (wie die Zeit-Rezensentin behauptet), der Schlager tut es, und Resnais zeigt en passant, wie seine liebevoll gezeichneten Figuren unter dem Einfluß der Massenkultur ihre Probleme mit den von den Chansons transportierten Binsenweisheiten und Illusionen lösen wollen, aber durch diese Selbstbanalisierung keinen Schritt vorankommen.

Die Lieder verweisen damit direkt auf die Thematik des Films: das gesellschaftliche Dogma, äußerlich den Schein eines erfolgreichen Lebens wahren zu müssen. Die von ihrer Ehe genervte Odile (Azéma) versucht ihrer Unzufriedenheit durch zwanghaften Optimismus und durch die Suche nach einer repräsentativeren Wohnung beizukommen. Ihr Lieblingslied "Résiste" von France Gall, das sie immer dann zum besten gibt, wenn sie andere aus der Resignation herausreißen will, ist gleichzeitig ihr Lebensmotto. Odiles gestreßter Ex-Freund Nicolas (gespielt von Jean Bacri, der zusammen mit Agnès Jaoui das Drehbuch schrieb) leidet unter Hypochondrie. Der unglücklich verliebte Simon (Dussollier), kleiner Angestellter von Odiles Immobilienmakler, gibt sich anderen gegenüber gerne als Hörspielautor aus. Und seine Angebetete Camille (Jaoui) fällt wiederum auf Simons playboyhaften Chef herein und will sich nicht eingestehen, daß sie nach dem erfolgreichem Abschluß ihrer Promotion zutiefst deprimiert ist.

Ausgerechnet auf der extravaganten Einweihungsparty von Odiles neuem Appartement, auf der alle Beziehungsfäden zusammengeführt werden, fallen die Masken. Und während Resnais seine Stadtneurotiker zur (vorübergehenden) Selbsterkenntnis treibt, gewährt er auch einem surrealistischen Element Einlaß in die Abendgesellschaft: Eine Qualle schwebt dezent durchs Bild und wabert von einem Paar zum anderen. Und trotzdem: Der Film ist nicht nur lustiger, sondern auch realistischer als jedes Musical - und jeder Chanson.

"Das Leben ist ein Chanson". F 1997. R: Alain Resnais. B: Agnès Jaoui, Jean-Pierre Bacri. D: Agnès Jaoui, Jean-Pierre Bacri, Sabine Azéma, André Dussolier, Pierre Arditi u.a. Start: 9. April