30. Aus Hofackers

Fortgesetzte Erzählungen

Vergangenheit

Verehrte Anwesende und Ehrengäste, meine Damen und Herren!

Vordergründig baut eine Gemeinde Sportplätze, Kindergärten, Schlachthäuser und Straßen, aber sie tut gut daran, auch das historisch Hintergründige, aus dem alles wächst, nicht zu vergessen. So liegt unsere Stadt heute als blühendes Gemeinwesen inmitten einer vielleicht kargen, jedoch reizvollen Karstlandschaft, aber es ist nur eine Skizze, an der die Natur dauernd retuschiert und korrigiert.

Wann die ersten Menschen in den Auen und munter dahinplätschernden Wasserläufen unserer engeren Heimat seßhaft wurden, wissen wir nicht genau, denn trotz manches wertvollen Fundes - z.B. des "Heidensteins" auf der Ritterslay und des "Hunnensteins" am Kelzer Wald - wies das Land zwischen Diemel und Fulda bis um 1950 eine auffallende Fundleere auf.

Auch die vierhundertjährige Herrschaft der Römer an Rhein, Main, Neckar und Mosel hinterließ, trotz eines kurzen Versuchs, im Kasseler Becken Fuß zu fassen, keine Spuren. Wir dürfen aber wohl annehmen, daß die Burschen und Mädels schon damals gerne den Limes überschritten, um einen der schmucken römischen Legionäre zu ehelichen, wie einst ihr Stammesbruder Hermann der Cherusker achtzig Kilometer westlich.

Es ist ein Verdienst unseres verstorbenen Mitbürgers Max Klebe, den wir an diesem Tag ebenfalls ehren, in seinem fast 77jährigen Forscherleben als Vorsitzender unseres Heimat- und Geschichtsvereins Licht in das historische Dunkel gebracht zu haben, ohne einer falschverstandenen Vergangenheitsbewältigung zu verfallen.

Er erkannte als erster, daß der heutigen Holländischen Straße, deren Vorläufer im älteren Neolithikum liegen und die seither unsere Gemeinde durchzieht, die hochbedeutsame Rolle als Durchzugsgebiet von Völkern und Kulturen zufiel. Eine

besondere Ehre ist es mir deshalb, auch seine

Gattin, Frau Ida Klebe, geborene Schindehütte, begrüßen zu dürfen.

Auf zwei Wegen gelangte die Bauernkultur der Jungsteinzeit von der heutigen Osttürkei ins südliche Weserbergland. Durch den Balkan die Donau

aufwärts ging der eine. Längs der Nordküste Nordafrikas über die Pyrenäenhalbinsel und das Frankenreich der andere. Die Frage, ob neue Menschengruppen sie brachten oder sie durch Übertragungen von Volk zu Volk zu uns kamen, entzieht sich einer klaren Beantwortung, doch muß wohl mit beiden Möglichkeiten gerechnet werden.

So mag um die Zeitenwende unsere Landschaft von Slawen besiedelt gewesen sein, die nach neueren Forschungen zu einem westslawischen Stamm gehörten, der freilich erst in karolingischer Zeit das Licht der Geschichte erblickte, aber das sind Spekulationen.

Hier setzte nun die irisch-schottische Mission ein. Wandermönche sind die Bauherren der von den irischen Mönchen gegründeten Klosterneugründungen im damals schon ostfränkischen Hügelland zwischen Fulda und Werra, die nicht zuletzt zum Schutz gegen die Sachsen gegründet wurden, und der mit dem Schwert gegürtete Mönch wurde ein häufiger Zeitgenosse auf unseren Straßen, zu denen auch der als Apostel der Deutschen titulierte Mönch Bonifaz, der mit seiner Geliebten Lioba in Mainz residierte, jedoch erst am 5. Juni 754 im heutigen Holland erschlagen wurde.

Noch heute wird in dem von ihm gegründeten Kloster jene Bibel verwahrt, die der schlagkräftige Mönch zum Schutz vor den Schwerthieben der heimtückischen Westfriesen über den Kopf zu halten pflegte, und gut sichtbar sind die tiefen Scharten und Blutflecken auf der Heiligen Schrift, die Kunde gibt von dieser Mordnacht!

Was sich sonst an geistigen oder weltlichen Herren hier im Land von Esse und Egelbach festsetzte, läßt sich nicht mehr eindeutig erkennen. Gegen Ende der Karolingerzeit, die mit der fast völligen Ausrottung der rebellischen Sachsen und ihrer endgültigen Christianisierung endete, versagen für gut vierhundert Jahre die Quellen über die geschichtlichen Vorgänge in unserer Landschaft.

Erst mit dem schwarzen Tod, der auch in unserer blühenden Landschaft seine blutige Ernte einfuhr, die bis auf ein altes Weiblein die gesamte arbeitsfähige Bevölkerung mit Ausnahme des Grafenhauses hinwegraffte, das auf der Ritterslay vor den Pestausdünstungen relativ sicher war, denn man glaubte damals, die tödliche Krankheit werde durch den Gestank der Verendeten übertragen, tritt unser Ort als Marktflecken wieder ans Licht der Geschichte.

In diesem Zusammenhang ist auch des landesherrlichen Edikts von 1345 zu gedenken, mit dem alle hiero ansässigen Zinsjuden bei Strafe der öffentlichen Verbrennung und Zurschaustellung ihrer sterblichen Überreste den Bannbezirk unter Zurücklassung ihrer gesamten beweglichen und unbeweglichen Habe unverzüglich zu verlassen haben. Da dies des Tag ist, an dem wir erstmals urkundlich Erwähnung finden, feiern wir heute zugleich unsere 650-Jahrfeier.

Man glaubte nämlich, daß die üblichen Ausdünstungen der etwa fünfzehn ortsansässigen jüdischen Familien, die mit ihren zahlreichen Kindern in großer Enge die Judengasse bevölkerten, die tödliche Pest ausgelöst haben. Allen christlichen Mitbürgern, die sich an den antimosaischen Ausschreitungen beteiligt hatten, wurde danach Straffreiheit versprochen, was allerdings nicht

verhinderte, daß sich nach kaum einem Jahrhundert bereits wieder drei jüdische Feuerstellen am Ort angesiedelt hatten, von denen zwei, wie es scheint, jedoch unter dem Druck der Reformation, deren Wirren im 16. Jahrhundert auch unsere Heimat erfaßten, zum neuen Lutherglauben übertraten, was freilich nicht ausschloß, daß die zwei

Sippen bei neuerlichen Ausschreitungen im siebzehnten Jahrhundert mit Kind und Kegel in die Synagoge gesperrt und abermals verbrannt wurden.

So zeigte sich schon in frühester Neuzeit, wie rassistische Überfremdung auch in einem blühenden Gemeinwesen soziale Krisen zur Folge haben, wenn der sozialen Frage nicht die erforderliche Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Natürlich wurde unsere Gemeinde auch vom Kroatenjahr während des Dreißigjährigen Krieges heimgesucht, und noch heute gedenken manche Einwohner jener Vorfälle, wenn während der Urlaubszeit gelegentlich ein Fahrzeug mit schwedischem Kennzeichen vor einem unserer Gasthäuser parkt, wie überhaupt die Gastronomie einen immer erfreulicheren Aufschwung nimmt. Doch das nur am Rande.

Ich könnte nun noch lange erzählen, etwa von der Franzosenzeit, an die zwei Gespenster erinnern, die mitternachts um die Stadtkirche streichen und bitterlich "Mon Dieu, mon Dieu!" rufen. Der Überlieferung zufolge handelt es sich dabei um zwei Grenadiere, die im Jahr 1762 auf dem Rückzug von aufgebrachten Bürgern erschlagen wurden, als sie die französische Regimentskasse zu retten versuchten.

Doch genug der historischen Schwärmereien. Wenden wir uns der Gegenwart zu. Aus der dunklen Zeit der zwölf braunen Jahre sind, was unsere Stadt betrifft, keine besonderen Vorkommnisse zu vermelden, auch wenn die Ortslage nicht völlig verschont blieb von kriegerischen Ereignissen. Ich erwähne nur die Beschädigung unserer schönen Einhorn-Apotheke im Stadtzentrum durch einen defekten amerikanischen Panzer, die zahlreichen Ostflüchtlinge, die der Gemeinde neuen Auftrieb gaben, wenn auch schweren Herzens, und den Bombenkrater am Galgenberg, der noch dazu den Vorteil hatte, jahrelang der freiwilligen Feuerwehr als Wasserreservoir zu dienen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und darf Sie jetzt alle zu einem kleinen Umtrunk im Festzelt einladen. Gott segne Sie und weitere sechshundertfünfzig schöne Jahre!

(Festvortrag des ersten hauptamtlichen Beigeordneten der Stadtgemeinde Adam Wurz zum 650jährigen Bestehen von Hofacker)

Nächste Woche: "Der rote Faden"