Kant mit Blauhelm

Das Elend der Politologie: Ulrich Menzel und die Weltordnung

Politikwissenschaftler sind die armseligsten Hanswürste des akademischen Betriebes: Gehen sie mit den Fragestellungen ihres Faches kritisch um, müssen sie ihr Geld als Postzusteller oder Hilfstankwart verdienen. Bücher schreiben, Vorträge halten und Forschungsprojekte durchführen dürfen nur jene, die die Probleme der Politiker zu den ihren machen. Es entstehen dann Gedankensammlungen von bestechender Schlichtheit - egal, ob es um Analyse, Handlungsoptionen oder die moralische Unterfütterung politischer Zwecke geht.

Dies gilt insbesondere für die Teildisziplin der Außenpolitik, die seit geraumer Zeit "Internationale Beziehungen" oder "Internationales System" heißt: Benennungen, die in ihrem Tribut an die Systemtheorie den politischen Anspruch aufs Weltordnen akademisch reproduzieren, zugleich aber den Verdacht entkräften wollen, die Wissenschaft habe sich hier in den Bereich des Handfesten geben.

Die herrschenden Gedanken sind die Gedanken der Herrschenden: In der edition suhrkamp ist soeben ein Werk erschienen, das Simplifizierungen provoziert, die eigentlich verboten sind. Ulrich Menzel, Politologie-Professor an der Technischen Universität Braunschweig, hat eine Reihe von Aufsätzen, die er während der letzten fünf Jahre geschrieben hat, unter dem Titel "Globalisierung versus Fragmentierung" zusammenbinden lassen, weil er folgendes Problem lösen will: "Wir sind derzeit Zeugen von zwei Megatrends, die unterschiedlichen Logiken gehorchen: Auf der einen Seite 'McWorld', also der Trend zur Globalisierung der Weltwirtschaft, der Weltgesellschaft, der Weltkultur (...), die weltweite Vernetzung der Metropolen, der Übergang von der nationalstaatlich verfaßten Industrie- zur transnational verfaßten Dienstleistungsgesellschaft, der Universalisierung der Lebensstile. Die Konsequenzen dieses Trends laufen auf eine Enträumlichung der Welt, auf eine Aufhebung der Zeit, eine Entstofflichung der Ökonomie, eine Entsouveränisierung der Nationalstaaten, auf die Demontage des territorial verfaßten Sozialstaats, auf eine Auflösung nationaler Identitäten und kultureller Wertvorstellungen hinaus. Damit hat auch das realistische Weltbild ausgedient, das die Nationalstaaten, deren Machtentfaltung und Rüstungskonkurrenz, deren Kampf um Territorien, Lebensräume und Rohstoffe zur Voraussetzung hatte (Ö) Auf der anderen Seite 'Jihad', also der Trend zur Fragmentierung aller Lebensbereiche (Ö) Es ist die Welt der ethno-nationalistischen Konflikte, des Separatismus, der neuen Abschottung, des Terrorismus, des Verfalls der staatlichen Ordnung schlechthin, der neuen Terra incognita. Es ist aber auch die Welt der Spaltung der westlichen Gesellschaft in einen humankapitalintensiven Dienstleistungssektor mit hohen Einkommen und luxuriösem Lebensstil und die neue Armut, die Ghettoisierung der zu spät gekommenen Einwanderergeneration, des Neoprotektionismus, der Fremdenfeindlichkeit, des Wiederauflebens von Nation, Ethnizität, KuIturrelativismus und Rassimus."

An der Beschreibung und Sortierung dieser Tendenzen ist wenig neu, das Ganze differenziert Menzel so aus: Die Blöcke der fernöstlichen und westlichen Industriegesellschaften zerfallen in je zwei Abteilungen. Die "liberale Marktwirtschaft" des Westens umfaßt einerseits Kontinentaleuropa, "wo der verzweifelte Versuch gemacht wird, die sozialstaatlichen Errungenschaften der Moderne gegen ihre postmodernistischen Auflösungstendenzen zu behaupten, wo der Kampf gegen die Zwei-Drittel-Gesellschaft noch nicht aufgegeben worden ist". In Großbritannien und den USA hingegen herrsche "ein konsequent postmoderner Neoliberalismus" mit Zwei-Drittel-Gesellschaft, Industriebrachen und unwirtlichen Städten, "während" - Menzel mag Yuppies nicht und entlarvt sie ständig im blumig-gequälten Stil des Gewerkschaftsfeuilletonisten - "über den Wolken die weltweit vernetzten Kathedralen des Finanzkapitals in immer gleißenderes Licht getaucht werden".

In Ost- und Südostasien hingegen sei die Moderne - d.h. bei Menzel: die klassische Industrieproduktion - noch auf dem Vormarsch: Einerseits in Form des bürokratischen Entwicklungsstaates japanisch-koreanischer Provenienz, andererseits in der rivalisierenden Form des "chinesischen Familienkapitalismus", der seine "auf Blutsververwandtschaft oder landsmannschaftlicher Herkunft basierenden Netze des gegenseitigen Vertrauens über ganz Südostasien ausgeworfen hat".

In der - künftig strukturbildenden - Konkurrenz der beiden Großregionen befinde sich der Westen in der Defensive, die sich abzeichnenden "wirtschaftlich motivierten Konflikte" der Zukunft würden zur Ethnisierung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen führen. Hier habe sich die "prinzipiell liberale Logik, die Botschaft der Moderne schlechthin", einer "ethnischen Logik" zu erwehren."

Der Rest der Welt? "Wird nicht mehr benötigt": Sektor des Jihad, der Banden, der Warlords. Menzels Fazit: "Die vielzitierte neue Weltordnung ist trotz der Beendigung des Systemkonflikts nicht in Sicht. In Sicht ist nur der fortschreitende Verfall der alten Ordnung, die neue Unordnung oder gar Anarchie der Welt." Aber nur für Fans der "internationalen Zivilgesellschaft". Das ist die Glaubensgemeinschaft, der Menzel angehört.

Rückblende: Nach der Liquidierung der Sowjetunion - Politologen sagen: "nach dem bipolaren Zeitalter" - schnappte die Zunft geradezu über. Fukuyama schrieb seinen berühmten Aufsatz über "Das Ende der Geschichte" und prognostizierte mit anderen die weltweite Durchsetzung von Demokratie und Marktwirtschaft unter amerikanischer Hegemonie. Linksliberale Politikforscher entdeckten die "Friedensdividende", die nach dem Ende der Hochrüstungspolitik an die Zukurzgekommenen in aller Welt, vornehmlich in der Dritten, auszuzahlen sei.

Westliche Regierungen überlegten, wie man die sogenannte Entwicklungshilfe, mit der man vorher Dritte-Welt-Diktatoren an das Abendland gebunden und von Moskau ferngehalten hatte, einsparen oder zumindest effektiver einsetzen könne. Sogleich waren Politikwissenschaftler zur Stelle und fanden heraus, daß die Misere des Trikonts vor allem den dort herrschenden "korrupten Eliten" anzulasten sei, mit denen künftig "härter umgegangen werden" müsse (Menzel 1991).

Große Teile der bis dahin internationalistisch orientierten Solidaritätsbewegung eigneten sich eine ähnliche Sichtweise an: Müde vom erfolglosen Kampf gegen die Politik der Metropolenregierungen legte man sich den verlogenen - weil oppositionell klingenden - Titel "Nichtregierungsorganisation" zu, ließ sich über Projektstellen und Fördermittel die Kritik abkaufen und plädierte im Verein mit der offiziellen Politik dafür, finanzielle Unterstützung für die Dritte Welt an die Bemühung um Demokratie und Marktwirtschaft zu koppeln. Das war ziemlich wichtig: Zwar waren unter - teils schlecht - verdeckter westlicher Anleitung seit Jahrzehnten Despoten an die Macht geputscht und Oppositionsbewegungen stillgelegt worden, jetzt jedoch erhielt die Option aufs Mitregieren anderer Staaten offizielle und gesamtgesellschaftliche Weihen.

Mit der Demontage Jugoslawiens und dem Zerfall Somalias verlagerte sich die Debatte um politische Steuerung auf "humanitäre Intervention" im Zeichen der "internationalen Zivilgesellschaft". Während die außenpolitischen Kommentatoren von FAZ bis taz, angefeuert vom Haß auf die vermeintlich kommunistischen Serben und die schmuddeligen somalischen Warlords, den Einsatz der Bundeswehr guthießen, waren die Akademiker nicht untätig: Im Zeichen des Gegensatzpaares "Universalismus - Relativismus" dachte man darüber nach, ob zur weltweiten Durchsetzung der Menschenrechte das konkurrierende völkerrechtliche Prinzip, die staatliche Souveränität zweitrangig sei.

Bereits 1990 war in einem Beitrag der linken Dritte-Welt- Zeitschrift Peripherie zu lesen: "Das Eintreten für Freiheits- und Menschenrechte auf internationaler Ebene ist ohne Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten schlechthin unmöglich." Die Autoren setzten damals machtkritisch auf eine von staatsfernen zivilgesellschaftlichen Netzwerken getragene "Kultur der gegenseitigen Einmischung". Solche Anregungen waren bestenfalls naiv und objektiv eingebunden in die mittlerweile vollendete Verschmelzung von staatlicher und nichtstaatlicher Dritte-Welt-Arbeit; ein Prozeß, der auch die Theorie betrifft und der bereits damals entscheidend zur Zerstörung der Grundlagen einer unabhängigen und gegenseitigen Nord-Süd-Kommunikation beitrug.

Mit Menzels neuer Version, in der das Begriffspaar "Globalisierung - Fragmentierung" als Synonym für "Universalismus - Relativismus" steht, ist die Debatte dort angekommen, wo sie ankommen mußte: In Anbetracht der realen Hierarchisierung der Staatenwelt und in Anbetracht des Verschwindens jeglicher artikulations- und aktionsfähiger Opposition in den westlichen Metropolen ist die Theorie der "humanitären Intervention" ein runderneuerter Kolonialauftrag, der in der zugespitzten Expansionskonkurrenz der imperialistischen Staaten - sprichwörtlich - wie gerufen kommt.

In Menzels Theorie geht es zu wie im Selbstbedienungsladen: Seine Lieblingsbegriffe sind "Aufklärung" und "ldealismus", die wichtigsten Anregungen für eine "demokratische Weltinnenpolitik" holt er sich unmittelbar bei Immanuel Kant und Adam Smith, die er wie folgt aktualisiert: "Aufklärung führt zu Wirtschaftsliberalismus, dem Pendant zur Demokratie, zu internationaler Arbeitsteilung, Freihandel und Entkolonisierung, damit zu weltweitem Wohlstand und zu einer friedlichen Welt, in der die Gesetze des Marktes und nicht des Staates regieren."

Welch ein Schwung: Wer Fragmente frühbürgerlicher Ideologie als Leitfaden fürs konzernkapitalistische Miteinander ausgibt, der behauptet auch nebenbei, Ulrich Becks "Risikogesellschaft" sei "in gewisser Weise die Fortsetzung" von Horkheimer / Adornos "Dialektik der Aufklärung" und landet als Friedensvisionär bei Rechnungen, die bisher kein Feldherr der Welt aufgemacht hat: "Wer durch Handel arbeitsteilig miteinander verflochten ist, der schießt nicht aufeinander, weil die gesellschaftlichen Kosten den gesellschaftlichen Nutzen von Kriegen übersteigen." Köstlich auch, daß Menzel "die Herstellung sozialer Gerechtigkeit im Weltmaßstab durch internationale Umverteilung" fordert, gleichzeitig aber unter Berufung auf Smith und Ricardo "die Durchsetzung der Prinzipien einer" von Staatseingriffen freien "liberalen Weltwirtschaft" verlangt.

Mit solchen - und zahllosen anderen - Lachnummern entfaltet sich aber auch die Aggressivität des politischen Programms "Universalismus". "Nationalismus und Ethnizität", so Menzel ohne Umschweife, seien bei der Herausbildung moderner - d.h. westlicher - Nationalstaaten "letztlich vorübergehende Phänomene". Bedenkenswerterweise stelle sich jedoch jetzt heraus, "daß der Nationalismus und die damit verbundene Abschottung in den ost- und südostasiatischen Ländern, die eine erfolgreiche Industrialisierung vollziehen, nicht vorübergehender, sondern möglicherweise im Unterschied zur aufgeklärten westlichen Vorstellung grundsätzlicher Natur sind. Gesellschaft, Staat und Ökonomie in den genannten asiatischen Ländem werden modernisiert, ohne daß ein wirklicher Prozeß der Öffnung und der Universalisierung der Wertvorstellungen im westlichen Sinne vollzogen wird."

So verdolmetscht die Politologie wirtschaftliche Konkurrenzen dezent und präventiv zu Feldern der humanitären Intervention, eine Feststellung, die vor dem üblichen Vorwurf des "Ökonomismus" insofern gefeit ist, als Menzel selbst Struktur und Streitigkeiten der Staatenwelt ziemlich ausschließlich auf die Art des Geldverdienens zurückführt.

Daß die Idee der humanitären Intervention nichts weiter als eine modernisierte und an aktuellen Expansionsbedürfnissen einzelner westlicher Staaten oder Staatenbünde ausgerichtete Kolonialstrategie ist, wird vollends deutlich, sobald ein Blick auf die operativen Optionen geworfen wird. Einen Katalog von Anlässen für humanitäre Militäreinsätze liefert Menzel mit. Er enthält er neben "massenhafter Verletzung der Menschenrechte", "massenhafter Vertreibung bis hin zum Genozid", "massenhafter Verelendung", "Verfall der staatlichen Ordnung" u.a. auch die "unkontrollierte und illegale Proliferation von A-, B-, und C-Waffen" und "gravierende ökologische Rücksichtslosigkeit": Fälle, die zu einer sofortigen Intervention in der BRD und den USA führen müßten, wäre nicht der Einsatz im universalistischen Sektor per Definition ausgeschlossen.

Daß - sagen wir - die USA die ultraislamistischen Milizen in Afghanistan, die BRD den indonesischen Diktator Suharto stützen, würde der politologische Idealist nie als politisches Interesse, sondern immer als mangelnde Prinzipientreue deuten. So mimt Menzel in der ordinären Affirmation der gegenwärtigen Weltordnung - und exemplarisch für einen Großteil der Zunft - den rebellischen Missionar, der im Dschungel der Realpolitik an seinen Idealen festhält. Die Zerstörung der Vernunft hat schon elegantere Formen gekannt.

Ulrich Menzel: Globalisierung versus Fragmentierung. Suhrkamp, Frankfurt / Main, 262 S., DM 19,80