Schreiben auf der Nähmaschine

Regina Mundel verfolgt die Bildspur des Wahnsinns zwischen Surrealismus und Postmoderne

In einem späten Fernsehinterview schildert Louis Aragon seine erste Begegnung mit André Breton 1917 im Militärhospital Val de Gr‰ce und ihre gemeinsame Vorliebe für Lautréamonts "Gesänge des Maldoror". Während historische Aufnahmen von Kriegsneurotikern über den Bildschirm laufen, erzählt Aragon: "Und in einer unwahrscheinlichen Maldororschen Kulisse lasen wir ihn, Breton und ich. Was hätten unsere werten Offiziere wohl gesagt, wenn sie unerwartet hereingekommen wären, während einer von uns aus voller Kehle vorlas: 'Ich hörte einen Glühwurm, groß wie ein Haus, der zu mir sprach: Ich werde dich erleuchten'?" Die Entstehung der surrealistischen Bewegung aus der Begegnung mit dem Wahnsinn? Regina Mundels Schrift "Bildspur des Wahnsinns. Surrealismus und Postmoderne" legt diesen Schluß nahe.

Die strukturalistische Tätigkeit - Auseinandernehmen und Zusammensetzen - beschreibt zugleich eine surrealistische. Deshalb ist die surrealistische Verkürzung eines Lautréamontschen Satzes auf die Worte: "Schön wie die unvermutete Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch" zum Erkennungsmerkmal des Surrealismus schlechthin geworden. Auch Regina Mundel hält sich in ihrer Schrift lange bei diesem Satz auf. Allerdings nimmt "dieser Ohrwurm" (Mundel) bei ihr eine unvermutete Wendung. Gleich zweimal liest man bei Mundel - entgegen aller Überlieferungen und entgegen des französischen Originals - diese Version: "Schön wie die zufällige Begegnung von einem Regenschirm und einer Schreibmaschine auf einem Seziertisch."

Nun könnte man folgern, daß das so ein Problem ist mit Ohrwürmern, deren Melodie einem zwar nicht aus dem Kopf geht; die aber nicht garantieren, daß auch der Text mitgesungen werden kann. Dieser Fehler aber kennzeichnet eine systematische Fehlleistung: Eigentlich will Mundel über die Bedeutung des Wahnsinns für die surrealistische Theorie schreiben, tatsächlich jedoch schreibt sie über die Rückeroberung des vormodernen Körpers durch das Schreiben. "Für die Surrealisten heißt Erkenntnis, am Saum des Wirklichen entlang sich zu bewegen und dieses mit der Feder abzutrennen. So sind Schreiben und Körper ineinander verwoben." Die Bezuglosigkeit des "dieses" und der logisch nicht wirklich einsichtige Bezug "So sind", markieren den acte manqué, das Nichtgelingen der Handlung.

Auf diesem Übertragungsfehler - Kittlers "Aufschreibesysteme" raunen im Hintergrund - herumzureiten ist nicht (bloß) Klugscheißerei. Die Autorin bezeichnet sich selbst als ein "Kind der Postmoderne" und führt in ihrem Buch die Schattenseiten dieser Existenz vor. Hier werden Texte hin-gerichtet.

Mundel sucht im Surrealismus die Möglichkeit, den Wahnsinn zu denken und denkbar zu machen, präziser, die Möglichkeit eines "Ich denke" des Wahnsinns. Da Denken aber eine Tätigkeit der Vernunft ist und (zumindest für die Aufklärung und die Ich-Psychologie) ein sich selbstbewußtes Ich oder Selbst voraussetzt, Wahnsinn aber ein "Außer-sich-sein", ein Effekt der Unvernunft ist, entsteht selbstverständlich ein Konflikt. Diesen diskutiert Mundel mit Descartes, den weder das Denken des Irrtums noch der Traum je über die Grenzen der Vernunft hinausführte; mit Foucault, der den Ausschluß des Wahnsinns aus dem denkbar Möglichen aufzeigte, und mit Derrida, der gegen Foucault eine Geschichte des Wahsinns für unmöglich hält, da sie immer von der Vernunft geschrieben würde. Wahnsinn findet seine Ausdrucksform im Schweigen, nicht im Reden. Was Aragon und Breton im Militärhospital phantasierten, was der Surrealismus versuchte und was Mundel in der surrealistischen Theorie sucht, ist vielleicht mit einem Monsterbegriff zu umschreiben: eine Ent-Vernunftung. So entsetzlich dieses Wort klingt, so dicht ist es an dem, was Mundel eigentlich nicht schreibt, aber doch auszudrücken versucht. Es geht um die Aufhebung von Antinomien, von sich ausschließenden Seins- und Denkformen - ohne eine dialektische Synthese zu denken, sondern indem beide Seiten zugleich in einem Gedanken gedacht werden.

Das Ganze funktioniert nur theoretisch, und wie, das zeigt auch der "Ohrwurm". Mundel kapriziert sich auf den Topos "Seziertisch" und versucht, mit diesem Bild die Nähe der Surrealisten zum Tod (und damit: Nichtaufschreibbaren) deutlich zu machen, weil "Sektion per definitionem mit dem Tod verbunden" ist. Was sie dabei aber vernachlässigt, ist, daß es da noch Regenschirm und Nähmaschine gibt. Zerschneiden, Auseinandernehmen ist eben nur die eine Tat, auf die das Zusammennähen folgt, oder das mit der ersten Tat zusammengedacht werden muß. "Dekonstruktion" erhält mit diesen beiden Gerätschaften ein eindrückliches Bild. Und wenn man sich fragt, wo eigentlich all dies stattfindet, dann kann man die Bedeutung des Regenschirms durchaus dahin treiben, daß er "das Wirkliche" aus-schirmt aus dem Ort, auf dem die Begegnung stattfindet, dem Gegenort zum Wirklichen, dem Seziertisch - und das ist die Kunst. Lautréamonts Satz beschreibt das ästhetische Prinzip des Sur-Realen.

Wie dieses Prinzip in der literarischen Fiktion einer Realität scheitert, führt Mundel in ihrer Beschreibung des Bretonschen Romans "Nadja" vor. Breton kann das Wahnsinnig-Werden Nadjas nur noch beobachten und beschreiben. Dieser Akt des Aufschreibens ist zugleich der Schutz davor, sich selbst dem Wahnsinn hinzugeben. Hier gelingt es Mundel ein einziges Mal, "Surrealistin im Denken" zu sein. Oft genug aber bedeutet für sie die Aufhebung der Antinomie nichts weiter als der Ausschluß der Vernunft aus der surrealistischen Theorie - und das führt zur Hin-Richtung der Texte.

Unter der Überschrift "Pandora" nimmt sich Mundel eine Textpassage aus Aragons Roman "Le Paysan de Paris", der mit der emprischen Datenerhebung von Ort, Zeit, Tag und Temperatur im Moment des Schreibens beginnt und zum "Wahnsinnsbild" - das Öffnen der Büchse der Pandora - überleitet. Die Folgerung Mundels, daß hier die Metamorphose zu einem "Ich, das nicht mehr Herr seiner selbst ist", beschrieben wird, verkennt die Selbstversicherung durch das empirische Material und die Dualität von Positivismus und Imagination. Es geht nicht um die Freiheit eines Ichs, das "von Sinnen ist", sondern um die Freiheit, Vernunft und Unvernunft als Gleichwertiges zu denken.

Um zu verstehen, warum Mundel ihren Text geschrieben hat und warum er den Untertitel "Surrealismus und Postmoderne" trägt, ist der auf die Pandora folgende Abschnitt "Medusa" entscheidend. Hier geht es um eine Textpassage aus Bretons "Nadja" und Nadjas zunehmende Identifikation mit Medusa, jenem Ungeheuer, dessen Blick den Mensch versteinern läßt. Über einige Wendungen hinweg landet Mundel bei einer Frage, in der die Sehnsucht der postmodernen Autorin zum Ausdruck kommt: "Aber ist es nicht Medusas Blick, der den Menschen, das Lebendige insgesamt, an einen Ort der Unteilbarkeit seines Körpers zurückführt, wo der Ort des Seins noch auffindbar und unüberwindlich ist, durch die Zeit hindurch, was nicht gleichbedeutend ist mit dem Verlust der Gefühle?"

Mundels Analyse zum Surrealismus und Wahnsinn liegen mindestens zwei Sehnsüchte zugrunde. Zum einen ist es der Wunsch - und das gegen die verwendeten Quellen -, die postmoderne Chance, in der Mehrzahl zu denken, rückgängig zu machen; zum anderen ist "Wahnsinn" nur ein Synonym dafür, "den Körper" als Instanz der letztgültigen Versicherung des Ich zurückzuerobern.

Regina Mundel: Bildspur des Wahnsinns. Surrealismus und Postmoderne. Eva, Hamburg 1997, 128 S., DM 30