Familienbande

Wie eine Gesellschaft die Familie organisiert, entscheidet über ihre Haltung gegenüber Migranten, behauptet der Anthropologe Emmanuel Todd

Es ist nur gerecht: Nach der Dekolonisierung wendet sich die Ethnologie den Sitten und Gebräuchen der industrialisierten Länder zu. Nicht nur das Funktionieren weit entfernter Kulturen läßt sich bequem auf ein paar einfache Heiratsregeln zurückführen, auch die scheinbare Komplexität der (post)-industriellen Gesellschaften reduziert sich bei näherer Betrachtung auf das Fortwirken archaischer Prägungen, die uns durch unsere jeweiligen "anthropologischen Systeme" mitgegeben werden.

Emmanuel Todds vergleichende Studie über die vier großen (westlichen) Einwanderungsländer - USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich - legt gleich zu Beginn ihre theoretischen Voraussetzungen offen: Das "Schicksal der Immigranten" in den verschiedenen Aufnahmeländern läßt sich anhand politischer und ideologischer Indikatoren nur unzureichend bestimmen. Eine Analyse der Einwanderung hat sich an die Realität zu halten. Und die findet der Anthropologe in den Familienstrukturen vor. Quer zu allen ideologischen Vorstellungen bestimmen sie die Weise, in der Menschen ihr Verhältnis zum Fremden organisieren.

Todd erstellt eine anthropologische Klassifikation, die auf der Unterscheidung zweier Familientypen beruht: Symmetrische Familienstrukturen gehen von der fundamentalen Gleichheit der Brüder (seltener auch der Schwestern) aus und führen zu der unbewußten, vor jeder Erfahrung liegenden ("apriorischen") Überzeugung, daß alle Menschen (zumindest alle Männer) gleich sind. Entsprechende universalistische Einstellungen werden in Europa durch die egalitäre Kernfamilie der romanischen Länder weitertransportiert. Eine starke Asymmetrie der familiären Ordnung kennzeichnet hingegen die deutsche und die japanische Stammfamilie mit ihrer Bevorzugung des Erstgeborenen, einer ungleichen Erbfolge und einer starken Unterwerfung unter den Vater. Die praktische Erfahrung der Ungleichheit in der Familie bringt auf der Ebene des unbewußten Verhaltens die gesellschaftliche Überzeugung von der Nicht-Gleichheit der Menschen hervor. Zugleich wird der als irreduzibel betrachtete Unterschied in eine hierarchische Klassifikation von Auserwählten und Ausgeschlossenen, von Über- und Untermenschen übersetzt.

Wenn man an die umständlichen Manöver denkt, mit denen eine marxistische Ideologiekritik sich bemüht, rassistisches und antisemitisches Verhalten aus der Normalität - oder aus dem spezifisch deutschen Scheitern - von bürgerlicher Vergesellschaftung zu erklären, erscheint Todds anthropologische Auflösung verlockend einfach. Noch die verstreuten Erscheinungen des Alltagslebens (vom "ästhetischen Chaos der Pariser Vorstädte" bis zum deutschen "Respekt vor der roten Ampel") lassen sich umstandslos auf die Kombinatorik der Familienstrukturen zurückführen.

Der naheliegendste Einwand lautet natürlich: Welche Bedeutung haben familiäre Prägungen - heute, da keine Bauernhöfe mehr zu vererben sind und der "Tod der Familie" als beschlossene Sache gilt? Hier verweist Todd auf die Stabilität der "anthropologischen Matrix", die auch in der postindustriellen Welt die fundamentalen Formen des unbewußten Verhaltens reproduziere.

Natürlich handelt es sich um einen fragwürdigen Kunstgriff, jede ökonomische, politische, kulturelle Veränderung (z.B. durch die Einwanderung selbst) aus der Analyse der Aufnahmeländer auszublenden. Doch gelingt es auf dem Weg der anthropologischen Reduktion, Strukturen und Übereinstimmungen aufzudecken, die sonst nicht sichtbar wären.

Wenn wir also unsere Aufmerksamkeit nicht auf die ideologischen Verlautbarungen, sondern auf die unbewußten Familienstrukturen richten, so steht am Anfang der amerikanischen Demokratie nicht der proklamierte Universalismus der Unabhängigkeitserklärung, sondern der hierarchische Differentialismus der calvinistischen Siedler. Mit der Gleichheit der Menschen war die Gleichheit der Weißen gemeint; ihre Gemeinschaft, die mit erstaunlicher Leichtigkeit die unterschiedlichsten europäischen und asiatischen Kulturen integrierte, gelang nur durch die Externalisierung einer irreduziblen Differenz, die die Indianer und die Schwarzen zu radikal Anderen machte. Trotz aller Anstrengungen des demokratischen Gewissens, die Rassentrennung aufzuheben, lebt im amerikanischen Unbewußten die segregationistische Zwangsvorstellung der Siedler fort.

So bezeugt für den erklärten Universalisten Todd noch der amerikanische Multikulturalismus mit seinem Verlangen nach Differenz und seiner Mode der Ethnizität lediglich eine bedauerliche Kontinuität der protestantischen Unterscheidung zwischen Auserwählten und Verdammten.

Ein ähnlich hartnäckiger Differentialismus kennzeichnet das englische System. Nur kommt hier dem Rassendifferentialismus, der sich wie in den USA an die Hautfarbe heftet, ein traditioneller und nicht minder ausgeprägter Klassendifferentialismus in die Quere, der die Unterschichten von der Mittelklasse weiter entfernt als von den außereuropäischen Immigranten.

Während das nicht-egalitäre, aber liberale englische System neben der Betonung der Unterschiede auch eine gewisse Toleranz für das Unterschiedene hervorbringt, verbindet sich im deutschen Differentialismus die Obsession für das Aufspüren des Unterschieds mit dem Wunsch nach seiner Auslöschung. Die für die Stammfamilie charakteristische Unterscheidung zwischen den Brüdern, so Todd, "vermittelt dem Unbewußten, daß die Menschen verschieden sind und getrennt werden müssen; aber die Autorität des Vaters gibt dem Unbewußten den Gedanken ein, daß die Menschen einer zentralen Gewalt zu unterwerfen und insofern zu vereinigen seien". Diese Form eines autoritären Unitarismus, der nicht das gleiche Recht von Bürgern, sondern die gleiche Unterwerfung der Untertanen will, zieht sich durch die Geschichte des deutschen Protestantismus und der Reichsgründung, kulminiert aber in der "Herrenvolk-Demokratie" des Nationalsozialismus. Hier ermöglicht die Konstruktion der Juden als eines "minderwertigen Volkes" die innere "Gleichschaltung" der völkischen Gemeinschaft.

Todds Versuch, "die Shoah anthropologisch zu erklären", muß wie jeder andere derartige "Erklärungsversuch" versagen. Doch wird hier die Besonderheit des deutschen Differentialismus deutlich: Aufgrund einer über die Romantik bis zu Meister Eckart zurückreichenden Tradition der "Innerlichkeit" und "Innigkeit" richtet er sich nicht auf die äußerlichen Verschiedenheiten, sondern auf die unsichtbaren Unterschiede der Kultur, der Religion oder des "Wesens". Daß dieser Antisemitismus "eliminatorisch" wird, läßt sich auf den zwanghaften Wunsch nach Homogenität zurückführen, eine Sehnsucht nach Vereinigung, die im amerikanischen und englischen Differentialismus nicht vorgesehen ist.

Die (R)einheitsvorstellung des deutschen Differentialismus, die zum millionenfachen Mord an den Juden geführt hat, hat heute fatale Folgen für die Menschen, die von einem völkischen Staatsbürgerschaftsrecht als "Ausländer" ausgegrenzt und stigmatisiert werden. Todd zeigt, wie der Realität eines Einwanderungslandes nach wie vor eine Ideologie der Homogenität entgegensteht, die den unvereinbaren Unterschied wieder - wie bei den Juden - in der Religion sieht. Während, ablesbar an der Zahl der Heiraten, eine große Zahl von ImmigrantInnen aus dem ehemaligen Jugoslawien stillschweigend assimiliert wurde, hat die Politik der Nichtintegration die ursprünglich laizistisch und modernistisch orientierten Türken in Deutschland in den kulturellen und religiösen Separatismus getrieben. Man kann nur staunen, sagt Todd, wie sich Deutschland, ein halbes Jahrhundert nach der Vernichtung der jüdischen Gemeinde, eine neue Paria-Gruppe schafft, deren ethnische und religiöse Besonderheit für unüberwindbar erklärt wird.

In Frankreich, dem Mutterland der Revolution, treffen wir endlich "den universalen Menschen auf eigenem Territorium" an. Die Quelle von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit liegt im Pariser Becken, wo die egalitäre und liberale Kernfamilie regiert, während die Provinz von den Werten der autoritären Stammfamilie beeinflußt ist. Aus diesem Gegensatz ergeben sich nach Todd die Besonderheiten des französischen Universalismus: "Die Peripherie hält die Idee der Ungleichheit am Leben, aber vom Zentrum verführt und gezähmt, kann sie zum Ausdruck und zur Verteidigung des französischen Individualismus beitragen."

Hier wird die Schilderung ausgesprochen idyllisch. Lediglich in einem kurzen Abschnitt über den Algerienkrieg kommt Todd auf eine mögliche andere Wendung des Universalismus zu sprechen: Gerade weil sie an ihrer tiefsitzenden Überzeugung festhielten, daß alle Menschen gleich sind, mußten die französischen Kolonialisten den Algeriern, die offensichtlich nicht gleich genug waren, die Menschlichkeit absprechen. Für Sartre war dieser "Striptease des Humanismus" Grund genug, die Rede vom universalen Menschen als blutige Lüge zu betrachten. Für Todd jedoch bleibt der Universalismus ein unkompliziertes, gleichsam mit der Geburt empfangenes Geschenk, das die Franzosen vor der rassistischen Entstellung ihres Alltags bewahrt.

Angesichts wachsender Xenophobie und einer "Einwanderungsdebatte", in der die extreme Rechte den Rhythmus vorgibt, handelt es sich offenkundig darum, dem republikanischen Nationalgefühl zu schmeicheln. Als Politikberater (nachdem er noch als Wahlkampfhelfer des gaullistischen Präsidenten Chirac den "sozialen Bruch" entdeckt hatte, wechselte Emmanuel "Fracture" Todd 1997 zu den Kommunisten über) vertritt Todd die Ansicht, daß nur eine starke französische Identität die erfolgreiche Assimilation der Einwanderer gewährleisten könne.

So war es nur konsequent, als er in der Debatte über die Einwanderungsgesetze von Debré und Chevènement für republikanische Strenge plädierte: Die Forderung nach der Regularisierung aller Sans-papiers enthülle nichts als "manipulatorische Provokation und karitative Naivität".

Emmanuel Todd: Das Schicksal der Immigranten. Deutschland - USA - Frankreich - Großbritannien. Claassen, Hildesheim 1998, 418 S., DM 44