Lyotard und seine Liebhaber

Soll man sich mit Jean-François Lyotard versöhnen? Ein Nachruf

Die These vom Ende der Geschichte mit der Francis Fukujama auf den schleichenden Zusammenbruch der Sowjetunion reagierte, ist von der westeuropäischen Linken mit schier unerschöpflicher Häme quittiert worden. Das Hohelied vom finalen Sieg des Liberalismus im Weltmaßstab lieferte vor allem dort einen willkommenen Gegner, wo die gebetsmühlenhafte Wiederholung des Zusammenhanges von unüberwindbarem Faschismus und Spätkapitalismus längst jede ernstgemeinte Theorie der Praxis verabschiedet hat. Fukujama sollte hier die Rolle eines Sparringpartners übernehmen, der vergessen läßt, daß die angeprangerten geschichtlichen Kontinuitäten längst selbst den Rahmen eines ungeschichtlichen Weltbildes abgeben. Schließlich konnte vor diesem Horizont nie richtig erklärt werden, warum der schon am Anfang des Jahrhunderts schwerkranke "Spätkapitalismus", nicht längst implodiert ist.

Der philosophischen Radikalität, mit der Jean-Fran ç ois Lyotard seit Mitte der sechziger Jahre versucht hat, der drohenden Erstarrung des dialektischen Materialismus zu entkommen, ist dagegen zumindest die Konsequenz nachzurühmen, mit der er an einer philosophischen Perspektive gearbeitet hat. Als er 1964 endgültig eine Splittergruppe um die Zeitschrift Socialisme ou Barbarie verließ, tat er dies nicht, weil er meinte, der Kapitalismus bringe etwa keine Unterdrückung mehr hervor, sondern weil er die materialistische Dialektik als philosophische Grundlage selbst mitverantwortlich für das weltweite Scheitern der revolutionären Arbeiterbewegung machte.

Neben dem Mißtrauen gegen Intellektuelle, "die sich für Marxisten hielten, weil sie Marx lasen und Bosse nicht mochten", stand schon vor dem Austritt die scharfe Kritik der "realsozialistischen" Diktaturen. Die skeptische Entschiedenheit, mit der er sein Denken vor dem Einlenken gegenüber der geschichtlichen Realität einerseits und wie auch immer gearteten Idealismen andererseits bewahrt hat, machte ihn schon zu einem scharfen Kritiker der Frankfurter, als die in deutschen Universitäten noch eine Offenbarung bedeuteten. Er mochte sich weder mit den Idealismen einer Theorie des kommunikativen Handelns noch mit der im Grunde genommen theologischen Hoffnung auf Versöhnung, wie Adorno sie in der "Negativen Dialektik" entwarf, bescheiden.

Lyotard ist in der Nacht zum Dienstag vergangener Woche gestorben und wird damit endgültig zur Geisel seiner Interpreten, wie er vielleicht formulieren würde. Ist dies nicht der Augenblick, an dem es gilt, eine dieser versöhnlichen Totenreden zu halten, vor deren gemeinschaftstiftender Identifikation der Philosoph so eindringlich gewarnt hat? Sicherlich ist er der deutschen Öffentlichkeit heute eher als Agent des ästhetisch Erhabenen bekannt denn als Vordenker der radikalen Linken, der seine Ablehnung der sensorischen Deprivation (psychologische Foltertechnik) von RAF-Gefangenen in der Bundesrepublik konsequent in seine Kritik an den Humanwissenschaften integrierte. Auch das mag versöhnlich stimmen.

Dennoch scheint nichts verfehlter, als Lyotard in der Totenrede Höflichkeit zu bescheinigen, um schließlich zu behaupten, er sei nie Polemiker gewesen. Unverständlich, daß ausgerechnet Joseph Vogl, der sich um die Übersetzung des späten Hauptwerkes von Lyotard, "Der Widerstreit", verdient gemacht hat, in der Süddeutschen Zeitung zu diesem Schluß kommt. Bis in seine letzten, um fachwissenschaftliche Seriosität bemühten Werke ist Lytard ein Meister der philosophischen Provokation geblieben. So beschimpfte er die Dialektik, von der er sich gerade abgewandt hatte, als "Rumpelkammer der Skeptizisten" und "Melancholie von der Stange"; Adorno - dem er später immer wieder Bewunderung zollte - bescheinigte er den Übergang zum "offenen Nihilismus", Habermas warf er den "Terror des Konsensus" vor. Und schließlich jubelte er dem Publikum beiläufig die schon in der Wortbildung verwirrende Vokabel "Postmoderne" unter, die als Schlagwort solchen Eindruck macht, daß seine anschließende Distanzierung gar nicht mehr zur Kenntnis genommen wurde.

Die Provokation wird bei Lyotard zum produktiven Prinzip eines der Offenheit des geschichtlichen Prinzips verpflichteten Denkens. Um der Möglichkeit einer den herrschenden Universalismen und Systemzwängen differenten Praxis willen, lehnte er die Beschreibung der Gesellschaft im Rahmen eines wie auch immer sich totalisierenden Systems ab. Für ihn wird schließlich nicht die Hoffnung auf eine ominöse ungeschichtliche Versöhnung bestimmend, sondern die Einsicht in die Unabwendbarkeit gesellschaftlicher Konflikte, die sich nicht durch theoretische Vorgriffe aus der Welt schaffen lassen. Der Widerstreit ist der Augenblick, in dem es gilt, den Kampf gegen die herrschenden Systeme der Effizienz und Zweckrationalität aufzunehmen und eine differente Praxis zu etablieren, die ihrerseits keinen Anspruch auf allein seligmachende Universalität erheben kann. Diese Denkfigur zeigt Lyotard konsequent einer an Marxschen Widersprüchen geschulten praxisphilosophischen Perspektive verpflichtet.

Sicherlich schlüpft Lyotard in seinem Spätwerk auch unversehens in die Rolle eines Retters der Ästhetik (der Moderne), der mit einer obskuren Ursprungsmetaphysik ˆ la Heidegger scheitert. Für ein billiges - von Gegnern wie Verehrern gleichermaßen erwünschtes - anything goes, wird seine oft ätzende Skepsis jedoch nie zu haben sein.