Zwischen den Sprachen

Emine Sevgi Özdamar erzählt in der "Brücke vom Goldenen Horn" die Befreiungsgeschichte einer jungen Frau

Enthusiastisch vermerkt die Frankfurter Rundschau, "die deutsche Literatur (sei) über den Bosporus gegangen - und reich beschenkt zurückgekehrt". "Berstend sinnlich", findet der Freitag, und erkennt "orientalische Fabulierlust", "wie in 1 001 Nacht". Der autobiographisch inspirierte Roman der in Malatya (Türkei) geborenen und in Deutschland lebenden Schauspielerin, Regisseurin und Autorin Emine Sevgi Özdamar löst offensichtlich Exotik-Reflexe aus. Das aber hat diese poetisch-surreale Bearbeitung von Lebens- und Zeitgeschichte der Jahre 1966 bis 1975 nicht verdient. Die Geschichte spielt vorwiegend in Berlin und Istanbul und ist aus der Perspektive einer namenlosen jungen Frau erzählt.

Das Lebenspanorama spannt sich auf zwischen Fabrikarbeit bei Telefunken in Berlin, wo die 18jährige Protagonistin mit anderen Türkinnen im "Frauenwonaym" gegenüber dem Hebbeltheater im Widerschein der Lichtreklame ihren Schauspiel-Karriereträumen nachhängt, linkem Aufbruch im Berliner türkischen Arbeiterverein und der Rückkehr in die politischen (Nach-) 68er-Auseinandersetzungen in der Türkei.

Beide Teile des Romans stehen jeweils im Zeichen eines urbanen Ortes, der durch ein Bauwerk markiert ist: die Ruine des Anhalter Bahnhofs in Berlin, die von den Fabrikarbeiterinnen als "der beleidigte Bahnhof" bezeichnet wird (das türkische Wort für "zerstört" bedeutet auch "beleidigt"), und die Brücke vom Goldenen Horn in Istanbul.

Die durch die Zweisprachigkeit entstehenden Verfremdungseffekte verwandeln sich zu treffenden Metaphern deutscher Zustände. Nicht einer Begegnung der Kulturen, sondern forcierten Sprachmißverständnissen verdanken sich viele Grotesken des Romans. So, wie im "beleidigten Bahnhof" ein Fixpunkt in der Topographie der fremden Stadt gefunden wird, bekommt die fremde Sprache einen neuen Sinn durch Wortspiele. Der Anhalter Bahnhof wird zu einem Ort, an dem die Ordnung der Zeit außer Kraft gesetzt ist: "Dort auf dem Boden des beleidigten Bahnhofs verloren wir die Zeit. (...) Wir gingen durch ein Loch hinein, gingen bis zum Ende des Grundstücks, ohne zu sprechen. Dann liefen wir, ohne es uns zu sagen, rückwärts zurück bis zu dem Loch, das vielleicht einmal die Tür vom beleidigten Bahnhof gewesen war." Heimweh, der Wunsch nach Zeitumkehr, verschafft sich Ausdruck durch Nachahmung eines rückwärts laufenden Stummfilms. Filmische und mediale Wahrnehmung (vor allem über Zeitungen, Telefon) prägen den Rhythmus, die Bildschnitt-Technik und das lakonische und weitgehend kommentarlose Erzählen.

Das topographische Pendant zum Anhalter Bahnhof ist für die Heldin in Istanbul die Brücke vom Goldenen Horn, jetzt - in den Jahren 1967 bis 1975 - nicht mehr ein magischer, sondern ein öffentlicher und politischer Ort. Schauplatz von Studentendemonstrationen und Arbeiterstreiks, Umfeld des Staatsterrors nach dem Militärputsch 1971 und des mörderischen Treibens der "Grauen Wölfe", Ort auch des Straßen- und Liebeslebens der Protagonistin. Als die Heldin 1975 auf der Flucht vor der Repression wieder nach Deutschland zurückkehrt, wird die Brücke gerade abgerissen.

Wolfram Schütte fabuliert in der Frankfurter Rundschau von der Brücke als einer "ebenso symbolischen wie lebensgeschichtlichen Klammer", weil sie "jene Istanbuler Verbindung zwischen dem europäischen und asiatischen Teil der byzantinisch-osmanischen Metropole" sei. Es hätte nicht einmal eines Blickes in den Stadtplan, sondern nur genauen Lesens bedurft, um die abgestandene Phrase von der Brücke zwischen den Kulturen zu vermeiden: "Ich lief in Richtung der Brücke vom Goldenen Horn, die die beiden europäischen Teile von Istanbul verbindet". "Zwischen Asien und Europa gab es damals, 1967, noch keine Brücke", weshalb die Heldin durch ausführlich beschriebene Fahrten mit dem Fährschiff sich der Kontrolle ihrer Eltern, die im östlichen Stadtteil leben, entzieht. Im europäischen Teil der Stadt führt sie ein Leben zwischen Schauspielschule, surrealistisch angehauchten Künstlerkreisen, Kinogängen in die Istanbuler Cinemathek und Treffen der linken Arbeiterpartei. Sie bezeichnet dieses Leben offensiv als Fortsetzung des Straßenlebens, das sie unter den Berliner Studenten beim Kino am Steinplatz begonnen habe.

Das Berliner Leben im Frauenwonaym beschreibt Wolfram Schütte so: "Blutjunge Frauen unter sich, in einer fremden Welt, auf der Grenz-Scheide der Kulturen, zwischen Angst und Verlangen." Den unvermeidlichen Automatismus der Kulturen-Folklore ergänzt ein Soft-Erotik-Exotismus. So entgeht der Kritik die tatsächliche Qualität des Romans, einen politischen und persönlichen Befreiungsprozeß in seinen Brüchen zu schildern, ohne ihn nachträglich zu denunzieren. Zur Geschichte der verschiedenen Lieben und erotischen Verhältnisse gehört auch die Empfehlung des "kommunistischen Heimleiters", eines Theaterprofis und Mentors der Heldin, möglichst schnell ihren "Diamanten", also ihre Virginität, zu verlieren, um als Schauspielerin über viele Erfahrungen zu verfügen. Ebenso gehört dazu die Verbundenheit mit ihren verschiedenen Liebhabern, insbesondere mit dem Spanier Jordi, bei dem sie in Paris ihren "Diamanten" los wurde, sowie dem "hinkenden Sozialisten", eine Bekanntschaft ihres zweiten Berlin-Aufenthalts.

Vor allem aber gilt die unsentimentale Liebe der Heldin dem intellektuellen Pasolini-Fan und Filmregisseur Kerim, der sie mit Verweis auf die chinesischen Mädchen der Mao-Revolution lehrt: "Guter Sex hängt vom revolutionären Bewußtsein ab." Vor die Wahl gestellt, eine Mao-Chinesin oder die Pasolini-Schauspielerin Anna Magnani zu kopieren, entscheidet die Heldin: "Anna Magnani war leichter, jeden Tag schwarze Kleider."

Mit Kerim lebt die Heldin während des Militärputsches in einer von Staat und Faschisten bedrohten Filmkommune getreu dem im Roman zitierten Motto Godards: "Was zwischen den Ländern zuerst ausgetauscht wird, sind die Filme." (Die Entdeckung ihrer Liebeskorrespondenz mit Kerim durch Militärs führt dann auch zu Festnahme und Gefängnisaufenthalt, die in alptraumhaften Szenen geschildert werden und das Ausmaß von Repression, Folter und faschistischer Reaktion in der Türkei dieser Zeit andeuten.)

Der Militärputsch war zunächst auch von Hoffnungen der Linken begleitet: "Für uns konnte ein Marinegeneral nur Sozialist sein, denn das Meer ist groß, und ein Marinegeneral weiß, wie groß die Welt ist." Politische Naivität der damaligen Linken und unabgegoltener kosmopolitischer Anspruch der Gegenwart durchdringen sich hier. Beim Nachlesen der damaligen politischen Diskussionen in der türkischen Linken wird klar, wie genau Özdamar diese nachzeichnet und in nur scheinbar naiven Bildern verdichtet. Zu den Parteienspaltungen vor dem Militärpusch: "Er (der Studentenführer Deniz Gezmis; G.S.) und seine Freunde nannten sich untereinander Ziegenbärte oder Schildkrötengesichter. Ziegenbärte waren die, die dem Vietcong-Chef Ho-Chi-Minh folgten, die Schildkrötengesichter folgten Che Guevara und Fidel Castro."

Die letzten Kapitel des Romans verbinden in einer atemlosen Collage das politische Geschehen, wie die Protagonistin es in Diskussionen und durch Zeitungen, vor allem Cumhuriyet, verfolgt, die Theateraktivitäten der Heldin, eine Reise ins persisch-irakische Grenzgebiet und die poetische Anstrengung, den Opfern des Militärputsches eine Stimme zu geben.

Neben den Stimmen der trauernden Mütter auf der Brücke vom Goldenen Horn sind es auch die Stimmen der Apollo 7-Astronauten, der Zeitungen und Telefone, der Literatur Lorcas, Brechts und Baudelaires, der Surrealisten und diejenige von Peter Weiss, die zu einer kosmopolitischen vielstimmig-hybriden Poesie des Widerstands beitragen. Eine Ästhetik, die sich ihrer medialen Vernetztheit, auch ihrer kinematographischen Prägung stellt und es trotzdem wagt, radikal individuelle und gesellschaftliche Erfahrungen zu formulieren. Die Unreinheit der Sprache, die zum Formulieren solcher Erfahrungen notwendig ist, kann nur ihr Vorteil sein.

Sie hat die Vorstellung der Literaturkritik von in sich geschlossenen Kulturen, die einer vermittelnden Überbrückung bedürften, weit hinter sich gelassen. In dieser Sprache gibt es nichts anderes außer dem Zwischen.

Emine Sevgi Özdamar: Die Brücke vom Goldenen Horn. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998, 334 S., DM 39,80