Schweigen des Schwanzes

Das Oberhausener Kurzfilmfestival schlägt den Bogen vom Autorenfilm zum wissenschaftlichen Bild

Die "Neue Mitte" - das sind die Profiteure der Globalisierung, sind kulturbanausige Besserverdienende, sind Schröder und alle, denen die postmoderne Zeit unverdientermaßen zuarbeitet. Die "Neue Mitte" in Oberhausen - das ist ein für die Zielgruppe "Neue Mitte" in den letzten Jahren aus dem Boden gestampftes Shopping- und Erlebniszentrum. Ein künstlicher Stadtteil, der der alten Mitte das Wasser abgräbt: mit Autobahnanschluß, Vergnügungspark und natürlich gigantischen Multiplex-Kinos, in denen jedes Filmfestival absolut reibungslos über die Bühne gehen könnte, ohne den Normalbetrieb großartig zu stören.

Die Entscheidung, die ältesten Kurzfilmfestspiele der Welt diesmal in einem hübsch-häßlichen Fünfziger-Jahre-Kinobunker direkt in der alten Oberhausener Innenstadt stattfinden zu lassen, ist demnach als ein eindeutiges kommunalpolitisches Statement der neuen Festivalleitung zu werten. Insofern war das Kurzfilmfestival in diesem Jahr schon und wieder einmal ein Politikum, bevor überhaupt der erste Film gezeigt wurde.

So gehört sich das, in Oberhausen: Im Jahre 1962 wurde hier das "Oberhausener Manifest" verfaßt, in dem illustre, heute zum Teil arrivierte Filmemacher den Tod des alten Kinos proklamierten und ihren Anspruch bekundeten, ein neues Kino zu schaffen, in erster Linie aber Geldmittel für dieses Projekt einforderten, das im deutschen Autorenfilm der Siebziger wohl seine Erfüllung fand.

1968 kam es zum Eklat, weil die Aufführung des Helmuth Costard-Films "Besonders wertvoll" von der Staatsanwaltschaft unterbunden wurde. Zahlreiche Filmemacher zogen aus Protest ihre Filme zurück und gingen nach Bochum ins Exil, wo die Filme dann laufen konnten. Der Anlaß: Costard läßt in seinem Film die Ministerbegründung zur Verschärfung der Filmförderrichtlinien verlesen - und zwar anstößigerweise von einem männlichen Genital. Der erste cum shot in der Geschichte des deutschen Kurzfilms und seine Verhinderung auf der Leinwand haben seinerzeit zu einer eindeutigen Politisierung der noch etwas unschlüssigen Filmerszene geführt. Oder, wie Werner Herzog sich in einem im Begleitkatalog abgedruckten Interview aus- und einläßt: "Nach '68 verkam das Festival zu einer politischen Veranstaltung und hat sich nie wieder erholt, weil auch der Kurzfilm an Bedeutung verloren hat."

Grund genug, Herzogs Empfehlung, Oberhausen zu einem "Heldenfriedhof" zu machen, in den Wind zu schlagen und genau dreißig Jahre nach 1968 mit einem Sonderprogramm "1998/68" die Ereignisse von damals und die Folgen zu rekapitulieren und bei dieser Gelegenheit die Filme von damals wieder zu zeigen. Grund genug auch, zur Eröffnung - und zur Strafe - noch einmal Herzogs damals preisgekrönten Film "Letzte Worte" zu zeigen, die Geschichte eines alten Griechen, der sich strikt weigert zu sprechen und das vor der Kamera wortreich kundtut. Kein schlechter Film, aber dieser überaus strenge, formalinene Formalismus! Seiner Zeit auch nicht gerade voraus, möchte man meinen.

Genialischer, humoriger und dabei weitaus schlichter ist da schon "Der warme Punkt" von Thomas Struck und Helmuth Costard. Der Scoop ist, daß das Filmmaterial mit einem wandernden Punkt vorbelichtet wurde und die beiden Macher nun vor laufender Kamera allerlei anstellen und improvisieren, um irgendwie noch Bilder zu generieren, die mit der durch den Punkt vorgegebenen Dramaturgie korrespondieren - ein aussichtsloses Unterfangen und dadurch eindrucksvolles Zeugnis von planmäßigem Scheitern und systematischer Selbstumzingelung. Gewissermaßen 1968 auf den Punkt gebracht.

Es fällt auf, daß eines der prominentesten Sujets von 1968 die Autoren selbst waren; das, was Helmuth Costard später in einer Diskussion "den Mut, sich mit sich selber zu beschäftigen" nennen wird: "Daß man nicht die Scheu hat zu sagen: Ich bin wichtig." Wahrscheinlich ist dies das filmische Vermächtnis dieser Zeit: der Mut, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Und wahrscheinlich ist das der Grund, warum einem Gutteil der Kurzfilme damals wie heute merklich etwas Klaustrophobes anhaftet.

Auch die in letzter Zeit wenig populäre Innerlichkeit des Neuen Deutschen Autorenfilms kommt aus dieser Zeit und Richtung. Die Super-8-Filmer, die Schmuddelkinder und Lomografen der Filmerszene, setzen das Prinzip der Selbstbespiegelung heute vielleicht am konsequentesten um und erzielen damit teilweise imposante Resultate, auch wenn die in Oberhausen präsentierten autobiographischen Wichsfilme fast schon an Terror der Intimität grenzen.

Der Kurzfilm indes, der heute wieder erfolgreich in den Kinos läuft, hat sowohl mit dieser Tradition der Selbsterforschung als mit der des strengen formalen Experimentes gebrochen und erzählt statt dessen eine kondensierte Spielfilmgeschichte. In Oberhausen ist diese Sorte jedoch stark unterrepräsentiert - mit einigen, dafür herausragenden Ausnahmen. Der wunderschöne deutsch- französische "Villeneuve" von Jakob Hilpert, eine Geschichte zweier Outcasts, die eine Städtepartnerschaft sabotieren, wäre hier zu nennen, ebenso wie "All For the best" von Vagif Mustafayev, in dem anhand der Verwechslungsgeschichte einer Leiche die gesamte Berg-Karabach-Krise aufgezäumt wird, oder der koreanische "Crack of the Halo" von Kim Jin-Han, eine Kaspar-Hauser-Geschichte auf asiatisch.

Die Vorab-Jury weiß scheinbar, was sie der Tradition eines Festivals schuldig ist, das immer schon etwas anderes von einem Film verlangte, als bloß gut gemacht zu sein. Und so sind unter den deutschen und internationalen Beiträgen zahlreiche, die eher unter "gut gemeint" zu rubrizieren sind, das Motto des Festivals, "Filme für Ungeduldige", aber definitiv nicht einlösen. Denn um nicht langweilig zu sein, bedarf es mehr als nur eines Zeitlimits von maximal 35 Minuten, wie die deutsche Produktion "Knittelfeld" eindrucksvoll unter Beweis stellt: Zu langatmigen Einstellungen aus dem Alltag einer Kleinstadt wird aus dem Off eine ebenso ausufernde wie tragische Familiensaga mit Dostojewskischer Personaldecke erzählt. Was bei "Der warme Punkt" intendierte Selbstironie war, ist hier allenfalls noch unfreiwillige Komik, die sich aus der Inkongruenz von Zweck und Mittel speist.

Im Zuge der konsequenten Verjüngung des Festivals, für die der neue Leiter Lars Henrik Gass steht, hatte man diesmal auch bei der Spex angefragt, um den Bereich der Musikvideos abzudecken. Auch wenn man sich etwas schwer mit diesen Bastarden zwischen Kunst, Ware und Werbung tut, besteht doch der Verdacht, daß die wirklich interessanten Dinge sich mittlerweile in diesem Genre abspielen könnten. Tatsächlich erstaunt bei der präsentierten Auswahl der interessantesten Clips des letzten Jahres (die selbstverständlich außer Konkurrenz liefen) - selbst wenn man die Ungleichheit der Produktionsmittel in Rechnung stellt -, daß viele Video-Clips nicht nur künstlerisch intelligent gemacht sind, sondern zudem politisch, oder sagen wir: soziologisch brisanter sind als der durchschnittliche Kurzfilm. Etwa wenn im Prodigy-Video "Smack My Bitch Up" mit subjektiver Kamera der typische Abend eines Neunziger-Jahre-Rüpels dokumentiert wird und dieser sich in der letzten Einstellung als Frau entpuppt; oder wenn The Roots mit "Keep It Real?" das klassische Big-Willy-mäßige Rap-Video persiflieren und dekonstruieren.

Auch wenn zu befürchten ist, daß der Avantgardefilm dabei unter die Räder kommt, scheint es für den permanent krisengeschüttelten Kurzfilm angezeigt, sich Verbündete in allen Lagern zu suchen und die Genregrenzen zu sprengen. Was in Oberhausen mit dem Sonderprogramm "Nützliche Bilder" erstmals versucht wurde, und zwar als Brückenschlag zu den Naturwissenschaften. Der Gedanke war der Kommission angesichts der Zeitungsabbildung eines arktischen Plankton-Tierchens in zigtausendfacher Vergrößerung gekommen, bei dessen Anblick - große Augen und ein lächelnder Mund - man gar nicht anders kann als gerührt zu sein. Der Generalverdacht gegen das naturwissenschaftliche Bild lautet demnach: Egal, wohin der Mensch blickt, findet er doch immer nur sich selbst. Jeder naturwissenschaftliche Film ist demnach Eigenwerbung für die menschliche Rasse?

Ganz so pauschal dann vielleicht doch nicht. Wenn man aber unter dieser Fragestellung den faschistoiden Bayer-Propagandafilm "Im Dienste der Menschheit" von 1938 und andere pathetische Medizinfilme jener Zeit ansieht, wird ein narratives Muster überdeutlich: Die Menschheit befindet sich im steten Kampf gegen mikroskopische Eindringlinge und Feinde. Von "Männer gegen Mikroben" bis zu "Independence Day" ist der Schritt dann nicht mehr weit, die Große Erzählung dahinter ist dieselbe.

Aber was sehen wir eigentlich, wenn wir die Aufnahme eines Himmelskörpers sehen, der so weit wie möglich von der Erde entfernt ist? Etwa dasselbe wie bei der Betrachtung eines Barium-Atoms unter dem Rasterelektronenmikroskop - also so gut wie gar nichts? Stimmt auch nicht: Wir sehen die unscharfen Genzbereiche, die Superlative des Sehens überhaupt, und sind auf Gedeih und Verderb den Wissenschaftlern ausgeliefert, die uns diese Bilder erläutern können. Danke schön, Wissenschaft, aber Bilder, die wir nicht verstehen, können wir selbst genug produzieren. In Erwägung eures Wissensvorsprung machtet ihr Bilder, die wir nicht verstehen können; diese Bilder seien fortan als ästhetische Produkte betrachtet, in Erwägung, daß wir nicht mehr für dumm verkauft werden wollen. So im Groben das Credo. Etliches ist dann noch erörtert worden, über die Invasion des Körpers, die Historisierung der Natur durch Darwin Ö vieles, was man auch schon an anderer Stelle vernehmen konnte und im Rahmen eines Filmfestivals nicht unbedingt am besten aufgehoben ist.

Derweil galt die Aufmerksamkeit dem running gag des Festivals: Beinahe hätte Costards groß angekündigter "Besonders wertvoll" dreißig Jahre nach dem spektakulären Verbot wieder nicht gezeigt werden können. Und zwar diesmal, weil der Film bundesweit als Vorfilm von Schlingensiefs "Die 120 Tage von Bottrop" läuft und alle Kopien in Umlauf waren.

Schlingensiefs Produktionsfirma hatte da irgendwie Scheiße gebaut. Dann tauchte der Film aber doch auf, und Costard präsentierte als Dreingabe den improvisierten Kurzfilm "Warum Christoph Schlingensief, den wir alle so lieben, nie Bundeskanzler werden wird. Höchstens Verteidigungsminister." Zu den Wortmeldungen auf Costards Anrufbeantworter im Zuge der problematischen Filmbeschaffung sehen wir - Bilder spielender Kinder in der alten Oberhausener Innenstadt. An den sprechenden Schwanz von damals reicht das nicht ganz heran, aber immerhin.