35. Die Wanzenburg

Fortgesetzte Erzählungen

Madelaine zog ein Gesicht und sagte: "Daß Sie das essen können." Der Anwalt betrachtete die Dreifelderbox aus Alu mit Fassung. Bommi Czybulski trat der Gattin sanft ans Schienbein und ordnete sein Zöpfchen. "Are Waerland, der schwedische Ernährungsforscher", sagte seine Frau milde, "hält drei bis vier breiige Stuhlgänge von je 150 Gramm pro Tag für normal. Man braucht nur regelmäßig seine Kruska zu essen."

Bommi verdrehte die Augen. "Madi, bitte." Wenn die blöde Kuh so weiter machte, konnte sie sich den eigenen Naturkostladen abschminken und saß bis zur Rente beim Stüssgen an der Kasse. Das Stüssgen war eine Art Rewe für Aldi-Kunden, die lieber im Plus einkaufen, weil sie denken, Deutscher Supermarkt klingt so nach Glatzen-Anhalt. Ohne diesen Anwalt kamen sie nie an das Haus, das mindestens zwei Millionen wert war. Alle Rechtsverdreher hielten den Fall für aussichtslos, aber der hier hatte sich den Grundbuchauszug angeschaut, einen Stadtplan rausgesucht und gesagt:

"Kreuzberg, Schillingbrücke, Stralauer Platz, also das hier müßte's sein." Hochgeschaut, erklärt: "Da bin ich als Kind oft langgegangen." Neues Zigarillo angesteckt, inhaliert, gehustet: "Die gute alte Wanzenburg." Beschlossen und verkündet: "Hätten Sie Zeit und Lust, mal mit mir hinzufahren? Sie zahlen die Fahrt, und über mein Honorar verhandeln wir, wenn ich die Hütte gesehen habe." Seither hatte manches Kölsch bei Ernesti der Vorbereitung der Reise gedient, die im Spätherbst 1991 stattfand.

Aber Madelaine war nicht zu bremsen. "Daß der Mastdarm nie als Behälter für den Verdauungsabfall bestimmt war", sagte sie, "sehen Sie schon daran, daß sein Blut direkt in den Kreislauf gelangt, während das Blut der oberen Verdauungsabschnitte zunächst in der Leber gereinigt wird." Sie zog den Zeigefinger ein und lehnte sich zurück. Rechtsanwalt Modjewski so freundlich wie ein Fleischerhaken.

"Ich weiß", sagte er. "Den Sermon kenn' ich. Solange es Schlachthäuser gibt, wird es auch Schlachtfelder geben." Er machte eine Pause. "Sie müssen wissen, liebe Madelaine, ich mag Schlachtfelder. Letztes Jahr war ich in Cannae. Ein herrliches Gefühl, über so einen Knochenacker zu stiefeln. Abgesehen von der genialen Nußknackertaktik der Karthager."

Czybulski hatte Schweiß auf der Stirn. Der Anwalt biß in sein kaltes Kotelett und schob einen Löffel Kartoffelsalat mit Mayonnaise nach. Im dritten Feld der Alu-Box dümpelten eine Scheibe Gurke, ein Stück Tomate, ein Blatt Feldsalat und eine Partyzwiebel in einer Schmierölpfütze. Draußen fuhr ein Fluß vorbei. Modjewski schien sich dafür zu interessieren. Madelaine fiel noch etwas ein. "Hippokrates sagt: Eure Nahrung soll Eure Arznei sein", sagte sie. "Sie kennen doch Hippokrates?"

"Natürlich kennt er Hippokrates", sagte Bommi Czybulski. "Er ist doch Rechtsanwalt. Nicht wahr, Karl-Otto?"

Der Anwalt nickte. In seinem halbblindem Auge glomm Trauer. "Du wirst es nicht glauben, Bommi", sagte er, "aber direkt da drüben am anderen Flußufer war früher die Grenze mit allen Schikanen. Wie oft bin ich hier langgefahren. Betonplatten, Stacheldraht, Todesstreifen, Flutlicht, Minengürtel, Wachtürme, eine herrliche Anlage. Da hatten die Deutschen endlich mal ein Bauwerk, mit dem sie Geschichte gemacht hätten, und was haben Sie damit gemacht? Abgerissen."

Czybulskis hatte das Gefühl, ihn trösten zu müssen. "Du mußt auch mal die Vorteile sehn", sagte er. "Wenn die DDR nicht aufgemacht hätte, könnten wir jetzt nicht nach Ostberlin fahren, Häuser angucken. Ham wir doch beide was von."

Diese ganze Reise von Köln nach Berlin, auf der Modjewski eine Weile in Gefahr schwebte, vollgekotzt zu werden, beruhte auf einer Erinnerung, von der die Czybulskis nicht ahnen konnten. Sie saßen eines Tages in seinem schäbigen Büro in der Kölner Südstadt, hielten ihm ein vergilbtes Dokument hin, und Bommi meinte, daß eines der Mietshäuser auf dem Lageplan seiner Stiefurgroßmutter gehört habe.

So Fälle hatte er manchmal. Der hier unterschied sich durch die Grundstückseigentümerin. Sie hieß Therese Dach, und das erschreckte ihn ein bißchen. Gab es sie doch, die parallelen Welten? Ausgerechnet am Schlesischen Bahnhof? Aber er ließ sich nichts anmerken und erkundigte sich nur ein bißchen nach dem mutmaßlichen Erbgang.

Czybulski wußte gar nichts, außer daß seine Mutter, eine geborene Kudow, nie in Berlin gewesen war. Er übrigens auch nicht. Nachts bei Ernesti rechnete Modder nach. Bommi war etwa dreißig, so daß Frau Kudow um die zehn Jahre jünger wäre als er, wenn sie noch leben würde. Ihre Mutter war somit etwa so alt wie seine und eine verheiratete Dach. Dann war Bommis Großvater ein Bruder seiner Mutter oder ein Neffe ihres Vaters und sie beide über einen Großvater verwandt, von dem er noch nie etwas gehört hatte.

Hinter Helmstedt hielt er Ausschau, ob vielleicht noch ein Rest Grenze zu sehen war. In den sechziger Jahren stand irgendwo bei Marienborn ein riesiges Warnschild mit der Aufschrift: "Die Lehre von Marx und Engels ist allmächtig, weil sie wahr ist." Das hatte er immer geliebt. Diese Naivität, Allmacht und Wahrheit in eins zu setzen, und dieser Kinderglaube, ein Staat brauche nur ein wahres theoretisches Fundament zu haben, um zu überdauern.

Als die ersten Kiefern am Wegesrand sangen: "Märkische Heide, märkischer Sand, sind des Märkers Freud", nahmen seine Erinnerungen Thereses Gestalt an, auch wenn es nur eine Glasvitrine in einem Wohnzimmer war, an die er sich entsann. Manchmal nahm seine Mutter Charlotte ihn bei der Hand. Sie gingen vorbei am Krankenhaus Bethanien, über die Spree, "schau mal, die Schwäne", aber er interessierte sich nur für die Glasvitrine, in der eine Kathedrale stand. Sie war schneeweiß, und mindestens einmal durfte er sie auch anfassen. Ich glaube, Köln war ihm auch deshalb sympathisch, weil seine Stiefoma einen Kölner Dom im Schrank hatte.

Seine Mutter dagegen schüttelte sich, wenn sie das Haus verließen, und noch Jahrzehnte später, wenn sie ihm von Therese erzählte, pflegte sie hinzuzufügen: "Ich war jedes Mal froh, wenn ich diese alte Wanzenburg hinter mir hatte."

Zu der Zeit hatte sie Modder auch schon die Geschichte mit der Kirsche erzählt. Sie war reif, dunkelrot und sah aus wie gemalt. Sie lag auf dem erigierten Glied eines Mannes, der eines Abends im Hausflur stand. Sie war elf Jahre alt, und der Mann hatte im Souterrain den Kohlenladen. "Du mußt sie mit dem Mund nehmen", sagte er.

Sie erreichten den Schlesischen Bahnhof gegen siebzehn Uhr, und er war Modder fremd, aber es war auch gut fünfzig Jahre her, seit er zu seiner anderen Oma nach Jutrosin gefahren war. Er hieß jetzt Hauptbahnhof und hatte eine Halle wie ein Flughafen.

Draußen war es feucht und trübe. Czybulski schob seinen Anwalt beiseite, sagte: "Aus dem Weg, Madi" und stapfte auf den Vorplatz. Dort, quer zum Bahnhof, mußte sich die Häuserzeile befinden, zu der das Haus seiner Vorfahren gehörte. Dahinter der Stralauer Platz. Auch

Modjewski drängt jetzt auf den Platz hinaus. Er war sicher, das Haus wiederzuerkennen, sobald er es sah. Dann, wenn Czybulski sagte, "das ist es, das da", würde er wissen, daß sie miteinander verwandt waren. Und natürlich auch Miterben.

Gemeinsam und schweigend überquerten sie den Platz, bis sie vor einer Fassadenfront standen. Aber Czybulski sagte immer noch nichts. Er schaute nur auf das Straßenschild, auf die Hausnummern, ging auf und ab, und dreht sich schließlich um Richtung Bahnhof und schüttelte den Kopf. Er kannte den Lageplan auswendig, und er war sicher, daß etwas fehlte.

"Wo ist jetzt dein Haus?" hörte er Modjewski sagen. "Ich weiß nicht", sagte er. "Ich glaube, wir sind eben drüber gegangen." Modjewski nahm ihm das Grundbuch aus der Hand und entfaltete seinen alten Stadtplan. Lange schaute er hin und her und sein steinernes Antlitz schweifte über den Platz.

"Ganz klar", sagte er schließlich. "Sie scheinen es abgerissen zu haben." Aus dem Off hörten sie Madelaines keifende Stimme:

"Und wovon willstu jetzt den Laden bezahlen?"

Modjewski achtete ihrer nicht. "Ich hol mir erst mal ein Döner Kebab", sagte er und deutete auf die Imbißbude. "Soll ich Ihnen was mitbringen?"

Nächste Woche: "Der Mond geht unter"