36. Der Mond geht unter

Fortgesetzte Erzählungen

Nachdem ich geheiratet hatte, wurde natürlich auch meine Sprache anspruchsloser. Tita, sagte ich mir, als Gattin eines werdenden Rechtsanwalts kannst du nicht so reden als wärst du in 'er Künstlerkneipe, und dann auch wegen des Kindes, das ich unterm Herzen trug, wie man damals sagte.

Das Gehirn des werdenden Lebens ist ja bekanntlich direkt mit dem Sprachzentrum der werdenden Mutter verbunden und empfängt von dort sämtliche Signale, mit denen eine Frau sich normalerweise abspeisen läßt, so daß also nicht nur das akustische Erleben, sondern auch die Semantik des Kindes schon im Mutterleib anfängt, weswegen man sich um aktive Sprachpflege bemühen sollte, nicht nur um Atemübungen und Häkeldeckchen.

Also no dope, no whiskey, no cigars, no dirty words und viel Madrigale hören und Rilke lesen, "Herr, der Sommer war sehr groß", wie meine Mutter zu sagen pflegte, wenn sie von ihrer Schwägerin sprach, die aber rasch verstarb, nachdem ihr Bräutigam fluchtartig das Weitere gesucht hatte, kaum daß ihm meine Familie etwas nähergetreten war.

Ich meine, das prägt einen schon, wenn man sowas erfährt, als junges Ding, daß es Männer gibt, die dermaßen hysterisch reagieren, wenn eine Frau mal ernste Absichten zeigt. Normal ist eher umgekehrt.

Also, das muß ich Modder lassen. An meiner Familie hatte er nie etwas auszusetzen, die war ihm völlig egal. Aber sowas von egal, daß es eigentlich schon wieder unnormal war.

Normal ist ja so: Du lernst einen jungen Mann kennen, du schwärmst für ihn, und er fängt schon mal an, dir sein Weltbild zu erklären. Also deinen Rücken zu streicheln und den Hintern zu kneten. Aber sobald er hört, daß du eine von Itzenplitz bist, bist du plötzlich ein anderer Mensch für ihn. Als hätttest du eine Geschlechtsumwandlung durchgemacht. Für den deutschen Mann ist einfach was völlig andres, eine von Kackwitz ins Bett zu kriegen als eine Bürgerliche.

Entweder er hält dir eine Rede über das schändliche Wesen des Adels seit Pippin dem Geringfügigen und singt: "Ah, ç a ira, die Aristokraten an die Laternen", oder er behandelt dich wie ein Maskottchen. Beim Bekanntmachen zum Beispiel. Die anderen Männer nuscheln: "Das ist die Beate oder die Elke oder der Dirk." Er dagegen: "Das ist Fräulein von Aberwitz." Auch wenn du ihn heiratest und jetzt Müller heißt, immer muß er durchblicken lassen, daß du mal eine von Soundso warst.

Das ist vermutlich auch der Grund, warum die Männer neuerdings den Namen der Ehefrau annehmen dürfen.

Mit Modder dagegen alles easy, auch wenn wir in Hofacker zu Besuch war'n, also Beerdigungen, oder wenn mein Bruder mal heiratete. Der hat höchstens mal 'n Messer vom Familiensilber abgebrochen, mein Ehemann, und den Griff hinterm Sofakissen versteckt, wenn Großmutter sich nicht alle kriegte, was die Reiter-SS für 'n feiner Verein war, wo mein Vater in seiner Kindheit drin hospitiert hat, oder nachts in die Topfpflanzen gepinkelt hat, wenn er zu faul war, auf Toilette zu gehen, wo man bei uns daheim aber auch ziemlich weit laufen mußte.

Gut, ich meine, der konnte einen auch ziemlich zulabern, vor allem, wenn er besoffen heimkam. Also, ich frage mich manchmal, was in seinem Kopf vorgeht. Die seltsamsten Sachen. Ich lag da, hundemüde, denn morgens mußt' ich früh raus, schon wegen der Kinder, und er redete und redete.

Was ihm gerade einfiel, vor allem, wenn er auch noch zugekifft war. Tagsüber hockte er in seiner Kanzlei über irgendwelchen beknackten Akten, abends kam er kurz heim, aß was, sagte den Kindern Gutnacht, verschwand ein paar Stunden in seinem Zimmer, um an irgendwelchen beknackten Romanen zu schreiben, die keiner lesen wollte, und nachts traf er sich in irgendwelchen obskuren Kneipen, wo ich auch 'n paar Mal war. In'er Försterin, beim Franz Diener, bei Wilma und so weiter.

Worüber? Nehmen wir an, er hatte einen Monduntergang erlebt. Lange und ausführlich natürlich, wie das so seine Art war. Wenn er dann heimkam, weckte er mich: "Sag mal, weißt du, wo der Mond untergeht? Also, ich meine, benimmt der sich genau wie die Sonne, Aufgang im Osten, Untergang im Westen, oder geht der mal da unter und mal da? Mal im Süden, mal im Norden und manchmal gar nicht?"

War ich natürlich schockiert. "Sag mal, spinnst du? Bist du noch ganz dicht? Weißt du überhaupt, wie spät es ist?"

Er stinksauer, muffelt irgendwas, wozu wir eigentlich verheiratet wären, wenn man mit mir nicht mal über das Weltall reden könnte. Fünf Minuten später war er eingeschlafen, schnarchte wie ein Weltmeister, und den Rest der Nacht lag ich wach und dachte nach, weil ist ja wirklich komisch. Oder hast du schon mal drüber nachgedacht, wo der Mond aufgeht beziehungsweise unter?

Nächste Nacht, das gleiche Theater. Er weckt mich ganz zärtlich. "Schatz, ich wollte nur sagen, ich weiß es jetzt. Sie gehn fast nie an der gleichen Stelle auf und unter, aber so ziemlich. Also, der Osten ist rot, auch mondmäßig. Ich war noch kurz auf ein Bier in der S-Bahnquelle, und da war eine Wespe, die's mir erklärt hat."

Und dann erklärt er dir endlos, daß praktisch alle Himmelskörper grundsätzlich im Osten aufgehen, also nicht nur der Mond und die Sonne, auch die anderen Planeten fliegen fast alle in der gleichen Richtung um unser Zentralgestirn, sogar die meisten Monde der anderen Planeten, gehn auf im Osten und unter im Westen, mit Ausnahme von ein paar, die praktisch nicht dazugehören, weil sie von außerhalb stammen, oder ma 'n Tritt gekriegt haben wie die Venus, und ich liege da wie gerädert und denke, mein Gott, wieso 'ne Wespe?

"Wieso redest du mit 'ner Wespe?" frag' ich erschüttert. "Nicht Wespe, Lesbe", sagt er und erzählt von der Ursuppe, und wie die Suppe sich immer in derselben Richtung gedreht hat. "Du mußt mal Gemüsesuppe umrühren, da siehst du's. Da dreht sich auch nicht die eine Mohrrübe linksrum und die andere rechtsrum", und dann erklärt er dir, wie sich in der Ursuppe langsam Klümpchen gebildet haben, was jetzt die Planeten und ihre Monde sind. "Denk an Joghurt", sagte er, "der dreht auch entweder linksrum oder rechtsrum und verklumpt nicht, wenn er älter wird."

"Wieso 'ne Lesbe?" sag ich. "Woher soll ich das wissen", sagt er. "Vielleicht studiert sie Astronomie."

Na ja, ging auch vorbei, die schöne Ehezeit. Modder ist nach Köln, hat seinen Wirkungskreis an den Rhein verlagert, irgendwann so um 1971, und die Kinder kamen zu meinem Bruder Thomas, sind also auch in Hofacker groß geworden. Jetzt sind sie praktisch erwachsen.

Wie ich zum Blues kam, wo ich mir prompt zwei Jahre Knast einhandelte, da will ich jetzt nicht von anfangen. Sonst heißt es gleich wieder, die ganze Bewegung der sechziger Jahre wäre an sich nur auf dem Mist verkorkster Elternhäuser gewachsen.

Obwohl: Hat was für sich, die These. Es gibt so viele Gründe zu rebellieren und so wenig Leute, die wirklich was unternehmen, wenn man mal absieht von Unternehmern wie Schrempp und Eaton, das sind praktisch die letzten, die noch nach der Devise handeln, "macht kaputt, was euch kaputt macht", daß vermutlich noch was dazukommen muß, vielleicht 'ne Art Krankheit, die eigentlich mehr 'ne besondere Gesundheit zu sein scheint.

Ich seh' das so: Ein Mensch aus kleinen Verhältnissen um die Jahrhundertwende, nehm' wir mal an, der geht zur SPD, wenn er gegen den Stachel seiner wilhelminischen Ahnen löcken will. Sein Sohn wird folglich Nazi, um sich von seinem Alten zu distanzieren, dem seiner geht zur CDU, was für den Vater natürlich ein Schock ist. Bei uns daheim galten Heuß und Adenauer als Volksverräter, und die Kinder von dem können dann immer noch DVU wählen oder NPD. Klaro.

Aber ich als Abkömmling eines nordhessischen Rittergutsbesitzers, wo rechts von dem schon immer die nackte Barbarei ihren Nistplatz hatte? Hä? Was macht so eine wie ich? Na, bitte. Im Knast war es übrigens nicht so übel. Das ist eine der letzten Bastionen des Adels.

Nächste Woche: "Das Ende einer wunderschönen Freundschaft"