37. Das Ende einer wunderschönen Freundschaft

Fortgesetzte Erzählungen

Wenn ich beschreiben sollte, woher Sie den Namen Heribert Habermas kennen, ginge es Ihnen vermutlich wie ihm, als er mich nach dem Weg fragte.

Ich hatte gerade eine Schulklasse rumgeführt und stand vor einem Problem. Mir war, als ob die dicke Fliege auf dem Bild, vor dem ich döste, neu wäre. Aber so ist das nun mal: Man kann ein Kunstwerk tausend Stunden lang betrachten und wird immer etwas Neues entdecken. Dieses Gegenteil vom Déjˆ-vu unterscheidet die Kunst vom Schwachsinn.

Berti kam rein, ein paar Schüler im Schlepptau, sah mich an, als hätte er mich noch nie gesehen und sagte streng: "Guten Morgen, Herr Klebe, wo hängen denn hier die Niederländer?" In seiner Frage lag der Vorwurf, daß ich mal wieder schuld daran wäre, daß er die Niederländer nicht fand.

Nun hätte ich antworten können: "Hier, überall, egal, wo du hinguckst." Wir haben praktisch nur Niederländer.

Aber das geht nicht in meiner Position. Ein Museumsführer muß Kontenance wahren, und wenn die Leute noch so schwachsinnige Fragen stellen. Neulich stand einer vor einem Bild, ein berühmter westfälischer Schinken mit einer Truhe drauf, aus der eine Menge kostbarer Kleider hängen, und betrachtete es eindringlich. Er stellte sich sogar auf die Zehenspitzen und fragte schließlich:

"Ach, bitte, Herr Aufseher, können sie mir vielleicht sagen, was da drin ist?"

"Wo drin?" sagte ich. "In der Truhe. Sie ist offen." - "Die ist immer offen." - "Nein, ich meine: Hat das etwas zu bedeuten? In ikonographischer Hinsicht vielleicht. So, wie auf bestimmten Sujets immer eine Lilie liegt oder eine Schildkröte rumkriecht." - "Nein, nein. Eine Truhe ist eine Truhe."

Wir kannten uns seit Kindertagen, Habermas und ich. Seine Familie wohnte drei Häuser weiter, und die Hebamme, eine gewisse Frau Höhnemann, die nur Alma Mater genannt wurde, hatte uns in einer Nacht entbunden. Natürlich trennte uns von Geburt an dies und jenes, aber das tat der Freundschaft keinen Abbruch. Nicht einmal das Jahr '33.

Ich weiß noch, wie ich Berti zum ersten Mal in seiner neuen Verkleidung sah. Es war kurz nach dem Abitur am Kaiser-Wilhelm-Gynmasium in Kassel. Er wollte damals schon Lehrer werden, und ich sollte nach Palästina auswandern, sobald ich 21 war.

Er kam mit zwei Kameraden die Straße runter, ich schaute hoch, nickte ihm zu und sagte: "Hallo, Berti! Na, neu eingekleidet? Paß auf, daß du dich nicht bekleckerst."

Er gab mir einen Tritt in den Hintern und sagte:

"Du wirst auch bald neu eingekleidet."

Abends, als es schon dunkelte, sah er mich im Garten sitzen, winkte mich in einen Winkel und flötete:

"Hör zu, Max, du darfst mich nicht wieder grüßen, wenn du mich siehst, oder dumm anquatschen wie vorhin. Ich bin jetzt in der SA, da muß ich mit den Wölfen heulen. Vor allem darfst du nicht grinsen, wenn ich die Uniform anhabe. Sonst muß ich dir eine in die Fresse haun."

Ich nickte: "Ist schon gut, Berti. Ich wünsch dir viel Glück."

Er hatte Tränen in der Stimme, als er mir zum letzten Mal die Hand reichte. "Du verstehst mich, Max. Meine Eltern verstehn mich nicht, meine Geschwister nicht, nur du."

Ich tätschelte seinen Rücken. "Ist schon gut, Junge. Ich verstehe dich. Wenn's nach meinem Alten ginge, wäre ich auch in der SA."

Da war was dran, was meinen Alten betraf. Mein Vater war deutschnational bis auf die Knochen. Er hatte sich im Ersten Weltkrieg durch eselsdämliche Tapferkeit vor dem Feind sämtliche Eisernen Kreuze erkämpft, die auf dem Markt waren, danach als Mitglied der Bürgerwehr in Kassel geholfen, den Arbeiter- und Soldatenrat zu verjagen, und war seine Leben lang Feuerwehrhauptmann gewesen.

Er teilte sogar Hitlers Ablehnung gegen die Juden, soweit sie aus dem Osten kamen. Nur, daß Adoof nicht begriff, daß die deutschen Juden fast allesamt anständige Deutsche waren, wollte ihm nicht in den Sinn.

Nein, er war immer ein anständiger Kerl gewesen, mein Freund Berti. Vielleicht nicht wirklich anständig, aber aber doch irgendwie menschlich. Er hatte mich sogar gewarnt, wenn seine Leute etwas vorhatten. Einmal, vor Jom Kippur, im Herbst '33, klopfte es nachts an mein Fenster, und er flüsterte mir zu:

"Geh morgen nicht in die Synagoge, aber nicht weitersagen."

Am nächsten Abend fuhr ein Lastwagen vor, vermummte Männer warfen Stinkbomben in den Betraum und schlugen mit Knüppeln auf die Leute, die mit Taschentüchern vor dem Mund und tränenden Auges herauskamen.

Als ich ihn wieder sah, war der Krieg vorbei, es war das Jahr Null der Bundesrepublik, und er gehörte zu denen, die hinter der Absperrung am Bahnhof standen, als ich nach Hause kam.

Er schaute mich an, und eine Sekunde lang verhakten sich unsere Blicke ineinander, ein Schimmer der Freude glomm in seinem Auge, ein Hauch des Wiedererkennens flog über die Bahnsteigsperre, und fast war ich geneigt zu glauben, irgendwoher hätten all diese Menschen von meiner Rückkehr erfahren und wären angetreten, um mich zu empfangen wie einen verlorenen Sohn, und nicht bloß, um den Sarg zu verabschieden, der mit demselben Zug abfahren wollte, mit dem ich ankam.

Aber dann wurde sein Blick hart und unerbittlich, er grinste höhnisch wie einer, dem eine unverzeihliche Beleidigung widerfahren ist, und ich wußte, er würde mir nie vergeben, daß ich damals einfach abgehauen war, während er für Deutschlands Ehre und Größe die größten Dummheiten begangen hatte. Es war das Ende einer wunderbaren Freundschaft.

Seither waren an die fünf Jahre vergangen. Wir trafen uns mindestens einmal im Monat, auf der Straße, auf dem Sportplatz, im Gemeinderat, in der Gastwirtschaft, beim Tankwart oder im Zeitungsladen, und jedes Mal sah er mich an wie jemand, mit dem er noch ein Hühnchen zu rupfen hatte.

An diesem Morgen wollte er wissen, wo die Niederländer hingen, wie gesagt, was auch schon eine Chuzpe war. Ich setzte meine Dienstmütze auf und sagte, aber mehr an die Schüler gerichtet:

"O ja, die Niederländer. Eine gute Idee, daß ihr euch die Käsköppe ansehen wollt. Interessiert ihr euch mehr für die Winterlandschaften oder die Eßzimmerbilder?"

Sie betrachteten neugierig ihre Füße und Fingerspitzen.

"Ihr wißt wahrscheinlich", fuhr ich fort, "daß auf diesen Stilleben nur deshalb so viele Rebhühner, Fasanen, Fische, Wildschweine, Schinken, Würste, Brotlaibe, Früchte und Biergläser abgebildet sind, weil sie bei den reichen holländischen Bürgern im Eßzimmer hingen."

Berti lächelte maliziös. "Wir interessieren uns mehr für die religiösen Themen", sagte er. "Wir behandeln im Unterricht gerade den Einfluß des Judentums auf die frühbürgerliche Malerei. Es ist wirklich erstaunlich, wie stark die jüdische Geschichte die abendländische Kunst beeinflußt hat."

Die Schüler hingen an seiner Lippe wie Humphrey Bogarts Kippe, und Berti saugte ihre Blicke auf wie ein Schwamm. "Judith und Holofernes", krächzte er, "David und Goliath, Lots Weib, Susanna im Bade, der Tanz der Salome, der abgeschlagene Kopf des Täufers auf dem silbernen Tablett, Samson und Delilah, Joseph und die Frau des Potiphar!"

Ich ging bescheiden in mich. Wollte er mir etwa Avancen machen? "Ich weiß nicht", sagte ich, "was die abendländische Malerei stärker beeinflußt hat: Die blutrünstige Überlieferung der Juden oder die erotische Phantasie der Maler. Ist ihnen mal die latente Homosexualität aufgefallen, die mit der Renaissance in Erscheinung tritt? Das Gesäß der Männer bei Michelangelo, ganz deutlich in der Capella Sixtina. Und wissen sie, warum Paolo Uccello Pferde am liebsten von hinten gemalt hat? Kennen sie Uccellos Pferdeärsche?"

"Nein, nein, Herr Klebe", wehrte er ab. "Das ist mir zu gewagt." Aber ich ließ mich nicht beirren. "Und dann erst die Erfindung der Zentralperspektive im Tafelbild. Am Anfang steht Massaccio, am Ende Leonardo. Aber wissen sie auch, daß beide homosexuell waren?"

Er tippelte nervös umeinander. "Hört nicht hin, Kinder, hört nicht hin!"

"Ich weiß", sagte ich, "das sind unangenehme Fragen. Aber wir dürfen ihnen als Erzieher nicht ausweichen. Die Zentralperspektive ist der Blick des Mannes auf die Welt, der sich darin als homosexuell definiert!"

Er sah mich an, als hätte ich seinen Foxterrier geschlachtet und lebend gebraten. "Das ist Ansichtssache", sagte er pikiert. "Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wo die Niederländer hängen."

Ich sagte: "Wenn es weiter nichts ist. Sie gehen die erste links, dann immer geradeaus, die dritte rechts und bis vor zum Feuermelder. Dort scharf links."

"Sie meinen rechts." - "Ich meine links." - "Sie haben aber nach rechts gezeigt." - "Na, dann eben nach rechts."

Er nickte huldvoll. "An die Arbeit, Herrschaften."

Ich sah ihm ohne Bedauern nach. Ich wußte, daß er ihnen gleich erklären würde, daß die Juden die letzten seien, die irgendeinen Wert auf ihr kulturelles Erbe legten. Noch in den ersten Nachkriegsjahren hatte er mit einer Jugendgruppe hinterm Burgberg wehrsportliche Übungen veranstaltet, um Hofacker gegen den bevorstehenden Einmarsch der Roten Armee zu rüsten. Nun war auch er in der Bundesrepublik angekommen. Eigentlich schade.

Nächste Woche: "Die tugendhafte Gräfin"