Fenster zum Hof

Doku-Revival beim 4. Jewish Film Festival in Berlin

Eine Mietskaserne in downtown Tel Aviv. Ein schwüler Innenhof nach Mitternacht. Kreisbewegung. Helle Fenstervierecke, eins nach dem anderen. Die Kamera spielt Kaleidoskop. Hier das taubstumme Paar beim Tango, daneben eine Frau beim Haarekämmen. Langsam gleitet der Arm mit der Bürste herab, und oben am Eisengeländer hängt Vicky die Wäsche auf. Dazu singt sie ein Lied, denn sie wäre gerne ein Star.

Mitten ins Genrebild platzt Batya (Esti Zackheim), ein wallend rotmähniges Zuckerbaby und neuerdings Großstädterin. Gemeinsam mit ihrem Freund, dem Ex-Mechaniker David (Zvika Hadar) ist man jüngst aus dem Provinznest Afula geflohen und verlegt sich nun aufs Pläneschmieden. David träumt von der eigenen Zaubershow, und Batya träumt an der Supermarktkasse vor sich hin. Trotz romantischer Liebesschwüre nehmen beide auch immer wieder ihre Perspektivlosigkeit wahr. Als müßten sie sich das Gegenteil beweisen, folgt auf die depressiven Momente heftiger, etwas stumpfsinniger Sex. Schrulliges, emotionslastiges Kino, in seinen besten Momenten direkt out of Rosenheim kommend.

Eigentlich also ist "Afula-Express" ein typischer Schausteller-Film, mit kleinen Leuten in Großaufnahme. Die vom Dokumentarfilm kommende Regisseurin Julie Shles hat jedoch auch in ihrem Spielfilm vor allem die soziale Unaufgeräumtheit der Traumtänzer-Existenzen im Israel von heute im Blick. Ihr Film war dort der Überraschungserfolg des letzten Sommers, ausgezeichnet - dank seiner wohlwollend-humoristisch verpackten Sozialkritik - mit mehreren israelischen Academy Awards. Als Eröffnungsfilm des 4. Jewish Film Festivals steht der Spielfilm mit der milden Message eher auf verlorenem Posten.

Die Stärken des diesjährigen, dem 50. Gründungstag des Staates Israel gewidmeten Festivals liegen eindeutig bei den essayistischen und dokumentarischen Arbeiten. Eine Ausnahme ist "Chronical of a Disappearance" des palästinensischen Filmemachers Elia Suleiman, finanziert mit Mitteln der israelischen Filmförderung. Ein Spielfilm erst auf der zweiten Blick. Der Regisseur, der auch die Hauptrolle übernommen hat, protokolliert die Situation der Palästinenser als szenische Nummernrevue. Die Distanz von 14 Jahren - solange lebt Suleiman nicht mehr bei seinen Landsleuten - ist dem lakonischen Film anzumerken. Der komische Höhepunkt ist eine schräges Verwirrspiel um eine israelische Polizeistreife, die bei der Pinkelpause ein Walkie-Talkie verloren hat. Plötzlich hören alle Abteilungen auf ein völlig irreführendes Kommando. Überhaupt, die Technik! Kaum tritt der Regisseur zu einem Vortrag ans Mikro, schrillt der ganze Raum von der Rückkopplung, und das Publikum verläßt nach und nach die Veranstaltung. Suleimans filmische Notate spielen in einer Grauzone zwischen verschrecktem Zynismus und heiterer Absurdität. Unter dem immergleichen Zwischentitel - "the day after" - werden die verschiedenen Lebensbereiche abgehakt. Ein Vogelkäfig wird hin und her getragen, Stimmen im Radio berichten aus Bosnien, und doch bleiben alle Vorfälle so folgenlos wie ein Karneval in einer Geisterstadt.

Im selben Programmblock läuft auch "I Stayed In Haifa" von Dalia Karpel, die in Gesprächen mit Emile Habibi dessen Leben als unfreiwilliger Grenzgänger des israelisch-palästinensischen Konflikts aufrollt. Habibi, der als prominenter Vertreter der modernen arabischen Literatur gilt, berichtet - aufgezeichnet in seinen letzten Wochen - von den bestimmenden Stationen seines Lebens. Zunächst in der palästinensischen KP Unterstützer der Zweiteilung Israels, lebte er seit dem Unabhängigkeitskrieg in Israel und vertrat die israelische kommunistische Partei rund zwei Jahrzehnte in der Knesset.

"Out for Love ... Be Back Shortly" von Dan Katzir, ein Studentenfilm, schildert aus der etwas pausbäckigen Perspektive eines jungen Mannes und Ex-Offiziers den Alltag der jungen Mittzwanziger in Tel Aviv. Der Bombenanschlag in der Dizengoff-Road 1997, der Militärdienst und das Attentat auf Yzak Rabin bestimmen die Atmosphäre des Films. Inmitten des Horrors hält Katzir, bewaffnet mit einer Hand-Kamera, die von jugendlichem Pathos überzeichnete Romanze mit seinem Schwarm Iris fest.

"Fragments - Jerusalem" von Ron Havilio war bereits im Forum der diesjährigen Berlinale zu sehen. Die siebenteilige, insgesamt sechsstündige Chronik bildet einen besonderen Schwerpunkt im Festivalprogramm. Gezeigt wird das über einen Zeitraum von gut zehn Jahren entstandene Filmwerk in zwei Blöcken. Havilio nähert sich der Stadt, indem er den Routen berühmter Reisender wie Chateaubriand oder Flaubert folgt und diese mit den Stationen seiner eigenen Biographie konfrontiert. Als Sohn eines israelischen Diplomaten verbrachte der Filmemacher seine Jugend in Istanbul, Paris und Kamerun und kehrte erst als junger Erwachsener nach Jerusalem zurück. Mit dem Blick eines Archäologen auf das Terrain der frühen Kindertage befaßte er sich fortan mit der geteilten Stadt. Erste Filmaufnahmen entstanden Mitte der Achtziger.

Rund um die historische Jaffa-Road spinnen sich seine Recherchen. Subtil verbinden sich alte Filmaufnahmen der Klagemauer, des Mamila-Viertels mit den Schwarzweiß-Aufnahmen des Fotografen Werner Braun. Havilio zeigt eine Stadt, die sich in einem beständigen Prozeß von Aufbau und Zerfall befindet. Insbesondere am Beispiel der Klagemauer wird die politsche Haltung des Regisseurs explizit.

Während alte Aufnahmen belegen, daß um die Jahrhundertwende noch gemeinsam gebetet wurde, verweisen die Bilder der Gegenwart auf eine orthodoxe Erfindung der jüngeren Zeit: Ein Zaun, der Männer und Frauen trennt. Die historischen Aufnahmen zeigen den Ort noch umgeben von den verwinkelten Mauern des maghrebinischen Viertels. Nach dem Sechs-Tage-Krieg wurden die Gebäude weggesprengt, um einem "öden Platz" (Havilio) zu weichen. "Fragments - Jerusalem" wirkt durch sein beeindruckendes Bildmaterial und seine ruhige zurückhaltende Kommentierung. In mehreren Sequenzen zeigt der Film die pittoresken Ruinen eines Nobelhotels; Fotos dokumentieren den späteren Verwendungszweck als Armenunterkunft.

Nach wie vor hat das Berliner Jüdische Filmfestival als einziges innerhalb Deutschlands eine Sonderstellung. Während das jüdische Festival in New York alljährlich die neuesten Produktionen präsentiert, hat man sich in Berlin für einen thematischen Schwerpunkt entschieden und zeigt Filme neueren und jüngeren Datums. Gestartet war das Festival 1995 mit Filmen, die sich mit den Sichtweisen der "Kinder der Überlebenden der Shoah" (Mihal Friedmann) beschäftigen. Als Zukunftsperspektive sei ein "Festival auf Reisen, mit festen Spielstätten in anderen Städten" vorstellbar, so Nicola Galliner von der Jüdischen Volkshochschule, die das Festival gemeinsam mit den "Freunden der Deutschen Kinemathek" zum vierten Mal konzipiert hat.

Um fragwürdige Losungen wie das Festivalmotto des letzten Jahres ("Frauen") zu vermeiden, sei noch einmal auf "Afula-Express", verwiesen, wo ein weiser Freund den liebeskranken David warnt: "Frauen sind wie Schnipsgummis, zu sehr strapaziert, treffen sie dich frontal."

4. Jewish Film Festival: Zeitgenössisches Israelisches Kino. Arsenal, Welserstr. 25, Berlin. Vom 7. bis 17. Juni