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Der Bundestag beschließt die pauschale Aufhebung der NS-Unrechtsurteile. Deserteure und verfolgte Schwule werden nur teilweise rehabilitiert

Der Beschluß des Bundestages hätte eine Sensation sein können. Vor 40 Jahren. Damals wäre die pauschale Aufhebung aller NS-Unrechtsurteile ein Affront gegen die noch oder wieder amtierenden Nazi-Richter gewesen. Damals wäre auch die teilweise Rehabilitierung der Deserteure eine Provokation für die treuen Wehrmachtsveteranen und die frisch gebackenen Bundeswehroffiziere gewesen. Jetzt ist das von einer großen Koalition vergangene Woche verabschiedete "Gesetz über die Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege" nur der halbherzige Abschluß einer Geschichte der halbherzigen Distanzierung von der nationalsozialistischen Justiz.

Unmittelbar nach Kriegsende wurden in den westlichen Besatzungszonen unterschiedliche Regelungen zur Aufhebung der Urteile getroffen, die man als "spezifisch nationalsozialistisches Unrecht" begriff. Die Verurteilungen von Deserteuren, Wehrkraftzersetzern und Schwulen gehören ebensowenig dazu wie Zwangssterilisationen. Einige Male befaßte sich in den folgenden Jahrzehnten das bundesdeutsche Parlament mit dem Thema. Jeweils angestoßen von öffentlichem Druck, folgte die Debatte stets einem ähnlichen Muster. Eigentlich sei schon alles geregelt, es gebe keinen Nachholbedarf in Sachen Vergangenheitsbewältigung, so das Standardargument vor allem der Union, aber auch der SPD / FDP-Koalition. Die Debatten führten zu nichts oder nur zu Einzelfallregelungen und unverbindlichen Erklärungen, wie 1985, als der Bundestag in einer Resolution den Volksgerichtshof zum nationalsozialistischen Terrorinstrument erklärte. Seine Urteile wurden aber nicht rechtsverbindlich aufgehoben.

1996 brachte der 80. Geburtstag von Dietrich Bonhoeffer die NS-Urteile wieder in die öffentliche Diskussion. Bonhoeffer war nach einem Standgerichtsverfahren 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg hingerichtet worden. In einem umständlichen Verfahren stellte das Landgericht Berlin zwar schließlich fest, dieses Urteil sei durch ein bayerisches Gesetz von 1946 bereits aufgehoben. Aber das Verfahren war für das Bundesjustizministerium Anlaß, Mitte 1997 ein Bundesgesetz zur Aufhebung der NS-Urteile auszuarbeiten. Doch die Union bremste den FDP-Justizminister aus, wieder mit dem Argument, die bestehenden Regelungen reichten aus, und es könne der Eindruck entstehen, die Vergangenheitsbewältigung sei womöglich noch nicht abgeschlossen. Auch wollte man alles meiden, was nach pauschaler Rehabilitierung von Deserteuren aussehen und im Umkehrschluß die Ehre des braven Wehrmachtssoldaten beschmutzen könnte. Ähnlich sieht es bei den Verurteilungen von Schwulen wegen der Paragraphen 175 ("Unzucht zwischen Männern") und 175a ("gewerbsmäßige Unzucht zwischen Männer") aus. Mit der erhellenden Begründung, diese Paragraphen hätten in der Bundesrepublik fortgegolten, will die Union bis heute diese Urteile nicht aufheben. Wenn schon Diskussion um NS-Justiz, dann soll bitteschön alles außen vor bleiben, was an die Kontinuitäten in der Bundesrepublik erinnert.

Als die SPD Anfang 1998 schließlich den FDP-Entwurf in den Bundestag einbrachte, wollte es niemand zum Eklat kommen lassen. Regierungskoalition und SPD einigten sich auf einen Kompromiß, und am vergangenen Donnerstag konnte Horst Eylmann (CDU), der Vorsitzende des Rechtsausschusses, verkünden: "Jetzt ist kein Urteil, das typisches NS-Unrecht darstellt, mehr gültig." Und sein Fraktionskollege Norbert Geis stellte gleich klar, was für ihn nicht zu typischem NS-Unrecht zählt und deshalb nicht aufgehoben wird: Deserteure würden nur dann rehabilitiert, wenn sie aus "Widerstandsgründen" gehandelt hätten.

Der Streit um die Interpretation dieses "endgültigen Schlußgesetzes" hat begonnen. Die SPD-Sprecherin, Herta Däubler-Gmelin, betonte zwar, Deserteure und nach den Paragraphen 175 und 175a verurteilte Männer, seien mitgemeint. Explizit aufgeführte sind beide Gruppen in dem Gesetz, wie von den Grünen beantragt, nicht. Selbst Däubler-Gmelins Parteikollegin Peschel-Gutzeit mußte zugeben, die betroffenen Deserteure könnten mit der Regelung nicht zufrieden sein.

In einem Punkt ist die Lesart des Gesetztes unumstritten. Horst Eylmann formulierte ihn so: Für die Betroffenen habe das Gesetz in erster Linie eine moralische Bedeutung. Sie werden nicht als Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes anerkannt, wie von den Grünen beantragt. Und so bleibt es bei der lapidaren Aussage aus der Begründung des Gesetzentwurfes: "Kosten: Keine".