Albern, aber symmetrisch

Leichte sommerliche Garderobe bevorzugt: Die Berliner Schaubühne läßt Ismael Ivo den "Nackten Michelangelo" tanzen

Irgendwie ist es ja gemein: Draußen ist längst Sommer, diesmal außerdem mit Fußballweltmeisterschaft, drinnen muß weiter Theater gespielt werden. Also treten manche Häuser mit gefälliger Leichtkost gegen die Konkurrenz von Biergärten und kurzen Hosen auf grünem Rasen an. Die Theater-Freiluftsaison hat auch dort begonnen, wo es gar keine Freiluftbühnen gibt.

Und die noble Schaubühne am Lehniner Platz schließt sich tatsächlich an, selbst wenn sie's nicht unter Michelangelo Buonarroti tut. 1974 hat Dmitri Schostakowitsch (1906 bis 1975) elf von dessen Gedichten vertont. Er fand im Universalkünstler des Cinquecento einen Geistesverwandten, der in Sachen Kunst, Macht, Liebe, Tod und Teufel das aussprach, was sich der alte Komponist so auch schon längst gedacht hatte.

Die Pack-die-Badehose-ein-Uraufführung mit dem reißerischen Titel "Der nackte Michelangelo" hat der grundgütige Regie-Veteran George Tabori gemeinsam mit Ismael Ivo angerichtet, dem kraftmeiernden Tanz-Maniac, dessen Ruhm vorwiegend die frühen exhibitionistischen Solo-Programme begründeten.

Einige hintereinander gestaffelte Flächen, abgeschlossen durch die Michelangelo-Studie eines nackten männlichen Torsos, bilden das neutrale Bühnenbild (Dietrich von Gremer). Zu Beginn trägt ein nackter Mann eine bis zu den Achseln in weißes Tuch gewickelte Frau durch einen hohen Türschlitz auf der linken Seite in einen hohen Türschlitz auf der rechten Seite. Zwischendurch setzt er sie ab und windet sich am Boden, während diese sich in ihrer Windelpackung windet. Und ist es auch albern, so ist es doch symmetrisch. Das Publikum schweigt betroffen, nur die üblichen Voyeure stöhnen unterdrückt auf. Bald kommt Ismael Ivo nach vorn und bestätigt mit drei Worten, daß man den richtigen Veranstaltungsort gefunden hat: "Der nackte Michelangelo".

Fehlt nur noch Musik, mit der bekanntlich alles besser geht. Gleich schlendert ein Mann herein, der das Gebaren eines römischen Gigolos perfekt beherrscht. Er heißt Matteo de Monti, trägt einen weißen Anzug und Lackschuhe, aber keine Socken, was auf späteren Striptease schließen läßt. Die Regie hat ihn erblinden lassen und ihm deshalb eine schwarze Brille verpaßt. Drei Tänzer rollen ein Klavier herbei, an dem sich Herr de Monti versuchsweise beim Singen begleitet. Ivo wiederum hat sich ein schwarzes Sofa geholt, um besser zuhören zu können. Als eine professionelle Pianistin den Sänger ablöst, nimmt der neben Ivo Platz. Ein schwarzer und ein weißer Mann, der eine in hellem Leinen, der andere im schwarzen, bodenlangen Wickelrock, das wirkt wie ein neues Benetton-"United Colors"-Plakat. Das ästhetische Niveau bleibt übrigens im Verlauf des Abends gleich.

De Monti kann in allen möglichen Positionen singen, aber in jeder nur schwülstig tremolierend und mit der seichten Pathetik des gehätschelten Pfaus. "Ich dachte", schmalzt er - es klingt trotzdem unglaubwürdig -, "ich dachte, zu dir selbst emporzusteigen", weshalb er schon mal die Schuhe auszieht.

Ismael Ivo, der bereits am Anfang seine spektakuläre Muskulatur vorgeführt hat, gefällt sich auch weiterhin beim Kirmes-Posing, wenn er sich nicht gerade in biederen Pirouetten und gespreiztem Accompagnato ergeht. Er ist, ganz wilder Mann, barfuß, und nimmt dem Sänger heimlich einen Schuh weg, um ihn sich in den Mund zu stecken. "Der Himmel scheint sich teilnahmslos zu zeigen", röhrt der Bariton, wie immer tief bewegt. Daraufhin wird auch das Klavier bewegt, das sich nicht wehren kann und auf der anderen Bühnenseite landet. Die tapfere kleine Pianistin Tatjana Blome spielt selbst im Rückwärtsgang weiter. Dazu trägt sie ein ärmelloses Abendkleid. Ivo kauert auf den Sänger zu sich hinauf, umarmt ihn, stößt ihn wieder weg. Der aber läßt sich das Singen nicht verbieten und zieht sich gleichzeitig bis auf die Unterhose aus, sülzt von "Unsterblichkeit" und fällt reglos zu Boden.

Ab und an dürfen auch die Tänzer des Deutschen Nationatheaters Weimar mitmachen, an dem Ivo Ballettchef ist. Sie bleiben allerdings weißgepuderte Randfiguren. Einmal haben sie mit einem Stein auf dem Kopf zu erscheinen, da der Sänger "Stein zu sein" wünscht. Als er "Laß mich im Schlaf allein" fordert, knallen sie die Dinger zu Boden und trollen sich.

Für das Ensemble ist der Berlin-Ausflug wirklich niederschmetternd. Die erschreckend einfallslose Regie von Tabori / Ivo hat mit choreographischer Interpretation nichts im Sinn. Die Gedichte werden mit dürren Assoziationen bebildert, die schnell verpuffen und nie eine eigenständige tänzerische Sprache ergeben. Ivo und de Monti suhlen sich - bis auf die nackte Haut - in kunstloser Künstler-Attitüde aus eitler Sentimentalität und peinlicher Egomanie. Die Schweißperlen fliegen. Die Notenhälse brechen. Barbusige Frauen und Männer mit Leichenbittermiene suchen vergeblich ihren Platz in dieser Welt. Er sei nicht tot, singt der gerade gestorbene Sänger, sondern bereits unsterblich, worauf Ivo blechern loslacht, den Sänger erwürgt und, in ein weißes Laken gehüllt, nach hinten abschleppt. Vielleicht in die Waldbühne oder in die Wuhlheide. Aufhalten mochte die beiden niemand.

"Der nackte Michelangelo". Vokalsuite für Bariton, Tanz und Klavier. Musik: Dmitri Schostakowitsch, "Suite nach Gedichten von Michelangelo Buonarroti", op. 145. Regie: George Tabori und Ismael Ivo. Mit Matteo de Monti, Ismael Ivo u.a.