Coming-out? Coming-in!

Als fiskalisches Ereignis braucht der Christopher Street Day vor allem Agitproper wider die schwule Subversion.

Der Christopher Street Day (CSD) hat heute in der schwul-lesbischen Szene etwa denselben Status wie Weihnachten: Alle denken ans große Fressen oder Ficken, aber kaum jemand mehr ans arme kleine Jesuskind oder den New Yorker Stonewall-Aufstand von Schwulen und Lesben im Jahre 1969.

Die früheren Demos einiger Hundert Homoaktivisten haben sich in den Neunzigern zu sektspritzenden Paraden Zehntausender, einer Touristenattraktion und festen Größe in den Bilanzen des angrenzenden Einzelhandels gewandelt. Emanzipatorische Forderungen jenseits homophilen Heiratswahns und freudiger Zuflucht unter den schützenden Baldachin der Volksgemeinschaft spielen nur mehr eine marginale Rolle.

Das Böse kam nicht von allein. Darum, die subversiven Inhalte und ihre Protagonisten zu verdrängen, hat sich in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe konservativer Schwuler propagandistisch verdient gemacht. Betrachtet man die Äußerungen, die Journalisten wie Szenegrößen zum Verhältnis von politischen Inhalten und Kommerz beim CSD von sich geben, so sind die Sympathien für die Fun-Fraktion deutlich. Besonders fällt die Herabwürdigung derer auf, die, in welcher Weise auch immer, an der kämpferischen Tradition des Ereignisses festhalten und auf grundlegende gesellschaftliche Veränderungen drängen.

Napoleon Seyfarth etwa, Aids-Aktivist und Autor des Bestsellers "Schweine müssen nackt sein", schwadronierte 1996 in der Berliner CSD-Zeitung Flagge zeigen von "einfältigen Politruks", die sich "in selbstverordneter Freudlosigkeit mit Parolen, die sie für politisch halten, in Richtung der reinen Lehre bewegen". Da sei es ihm lieber, "wenn die schwul-lesbische Gemeinde in tausendfacher Vielfalt wenigstens einmal im Jahr einträchtig durch Berlin" tanze, zumal "lustvoll demonstrierte Lebensfreude in der Öffentlichkeit vielleicht mehr bewirkt als freudlos getippte Flugblätter, die in Zeiten der Zentralheizung eh kein Schwein mehr mit nach Hause nimmt".

Bereits anläßlich des CSD 1995 hatten Jan Feddersen und Alexander Heinz in der taz "einige autonome Homophile von der 'Schwulen Baustelle' in Hamburg" als "großstädtisch-gelangweilte Sauertöpfe" denunziert, die nicht begreifen wollten, daß "fröhliche Umzüge" weitaus politischer als ihre "gesinnungspolizeilichen Ermahnungen" seien. "Ein Haufen autonomer Krakeeler" taugten noch weniger zu "optimalen Repräsentanten schwul-lesbischer Anliegen" als "volltrunkene Fummeletten", machte sich Stephan Kring in der schwulen Kölner Boulevardgazette First nach dem Berliner Umzug 1997 Luft. Wenn besagte Krakeeler den CSD als ihren Tag reklamierten, "gerade so, als hätten sie selbst anno 69 vorm Stonewall Inn mitgekämpft", dann sei das "noch viel pro-blematischer als jener 'CSD-Karnevalsrummel', auf dessen Trittbrett sie unfairerweise" mitführen. "Wir hoffen, die kleinen roten Zellen fangen jetzt tüchtig an zu arbeiten und ziehen ihre eigenen Schlüsse", quoll es schließlich aus den kleinen schwarzen Zellen des ehemaligen Anzeigenverkäufers und Prinz-Redakteurs.

"Denkanstöße zum Richtungsstreit in der Schwulenbewegung" hatte Kring schon früher gegeben, als er mit SA-Chef Ernst Röhm einen "prominenten Schwulen in der Geschichte" entdeckte und zugleich beruhigte: "Wir können uns unsere Mitschwestern nicht aussuchen." Auf Kring mag dieses Unvermögen zutreffen: Er vergleicht gern auch die DDR mit dem Nationalsozialismus respektive die Gedenkstätte Buchenwald mit der Reichskanzlei.

Subtiler ging es der noch relativ liberale stern-Redakteur Werner Hinzpeter in seinem Buch "Schöne schwule Welt" an. Er hatte "neue Schwule" entdeckt und deren Entpolitisierung zum Nonplusultra schwulen Glücks erklärt: "Durch ihre selbstbewußte Sichtbarkeit sorgen die neuen Schwulen auch ohne Schlachtrufe bewußt oder unbewußt dafür, daß die gesellschaftliche Akzeptanz sich weiter verbessert. So ist auch die Präsenz der Menschenmassen auf den jährlichen Paraden zum Christopher-Street-Day zu verstehen. Es gibt keine verbindenden Ziele mehr, die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer können auf Parolen gut verzichten."

Wie Hinzpeter, so hatten zwei Jahre zuvor auch Feddersen und Heinz in der taz "die Babyboomer der 68er-Generation" zu "Protagonisten einer Homosexuellenbewegung" gekürt, "die seit kurzem beginnt, einzuklagen, was die ersten Homokämpfer nach 1969 sich nicht getraut hätten: Wir wollen alles, was die Heteros auch haben. Ideologien interessieren sie nicht. Ihnen ist es egal, ob ums lesbisch-schwule Leben herum Kommerz stattfindet, ihnen ist es gleichgültig, ob ein Banker oder ein Diplom-Melker eben für diese Rechte einzustehen bereit ist."

Nur: Jene "Homokämpfer nach 1969" hätten sich gar nicht trauen müssen. Als Teil einer breiten Rebellion gegen die herrschenden Verhältnisse verfügten sie über hinreichende Klarheit, um genau das Gegenteil von dem zu fordern, was die Heteros hatten. Sie wollten eben nicht deren Normierungen übernehmen, sondern befreite Sexualität für alle erreichen. "Staat raus aus unseren Betten!" hieß es damals, nicht: "Weg frei zum Standesamt!" Da sich die gesellschaftlichen Grundstrukturen seither nicht wesentlich verschoben haben, kommen immer noch Menschen auf dieselben Ideen wie die "Homokämpfer nach 1969", etwa "die Zuchtmeister der radikalen 'Schwulen Baustelle' in Hamburg", die da denken, "daß es in unserer Gesellschaft genug Mißstände anzugreifen gilt".

Für Heinz und Feddersen ein irrer Ansatz: "Was ist schon revolutionär an Transparenten des BVH wie in Heidelberg, wo 'Nieder mit dem Patriarchat' gefordert wurde?" fragten die beiden Hamburger rhetorisch. Unbeleckt von den Theoriedebatten des während seiner aktiven Jahre im 1997 aufgelösten Bundesverbandes Homosexualität (BVH), stellten Feddersen und sein Co-Autor fest: "Eine 'Parade' erreicht mehr Leute und ermöglicht eine Identifikation auch für jene, die nicht dem Dunstkreis der Bewegung angehören." Daß sie im dunkeln ließen, was an dieser konservativen Identifikation das revolutionäre Element sein soll, ist logisch: Jegliche Umwälzung steht für einen Autoren außerhalb jeder Diskussion, der - so Andreas Dietl in Jungle World über Feddersen - in der taz "den rechten Flügelmann gibt", der es auch nicht für rechts hält, "das Asylrecht für politische, aber nicht für Armutsflüchtlinge bereitzuhalten".

Bei solchen Argumentationsmustern geht es im Kern um nichts anderes als die selbstverleugnende Aneignung eines tradierten männlichen Rollenbildes, das wiederum notwendige Bedingung zur Erlangung von bürgerlicher Respektabilität, Macht und von Ressourcen ist. O-Ton Feddersen und Heinz: "Für viele schwule Männer ist es ein Segen, auf einer Paradendemo auch nicht-angefummelte Männer zu erblicken - Leute wie sie selbst. Sie sehen, daß es Männer gibt, die nicht erst die Initiationsriten der Autonomen ('Erst eine Tunte ist wirklich schwul') durchlaufen müssen, ehe sie für voll genommen werden."

Mit der teils militanten Abkehr von Tunten, Transen, radikalen Schwulen und ihren Zielen nimmt die Bedeutung des Klein-Unternehmertums, nicht allein beim CSD, zu. Mit dem, was soziale Bewegungen einst diskutierten, nämlich die Notwendigkeit, Gegen-Politik und Gegen-Kultur durch eine autonome und gerechtere Gegen-Wirtschaft ökonomisch abzusichern, hat dies allerdings nicht das geringste zu tun; es wurde schlichtweg das gemeine Kapitalverhältnis in die schwule und auch lesbische Szene übertragen. So stellen Anzeigenblätter wie Gay Express, Box, Down-Town und First regelmäßig schwule Bars, Discos, Kneipen, Saunen, Sex-Shops oder Bordelle mit redaktionellen Beiträgen vor. Damit stilisiert sich die schwule Wirtschaft zum integralen Bestandteil einer "Bewegung", die längst keine mehr ist.

Peu ˆ peu verwischt man die qualitative Differenz von privatwirtschaftlichem und politischem Engagement, und so genügen heute ein Regenbogenfähnchen an der Ladentür und ein hinreichend beschallter Schankwagen auf der CSD-Parade, um seine Klientel zu sichern. Wo indes kritisches Bewußtsein und Politik nebensächlich, Lifestyle und Fun wesentlich geworden sind, unterscheidet "schwule Solidarität" nicht mehr zwischen Lederkneipe und Politzirkel, Sauna und AIDS-Hilfe. Weil all dies die Kassen klingeln läßt, inszeniert das schwule Kleingewerbe in den Metropolen die größten Szene-Ereignisse gleich selbst. So bildete sich in Berlin Anfang der neunziger Jahre die Konzertierte Aktion schwuler Wirtschaft Berlin (KAB). Ihr zweitägiges Stadtfest ist inzwischen das größte Massenereignis für Homosexuelle in Europa. Jeweils rund 300 000 Besucher zählte man 1996, 1997 und sicher auch wieder am vergangenen Wochenende.

Der Gewinn für die Wirte resultiert aus der Bindung ihres Publikums für den Rest des Jahres. Daß man 1996 in der extra für solche Anlässe edierten Zeitung Flagge zeigen ein Interview mit Mann-O-Meter-Chef Bastian Finke über Ursprung und Hintergrund der Festlichkeit lesen konnte, war ebenfalls nicht zufällig. Mitten im Schöneberger Schwulenkiez um den Nollendorfplatz gelegen, hat sich das senatsfinanzierte

Switchboard, das eigentlich die Basisgruppen der

Stadt vernetzen, Aids- und Gewaltprävention betreiben, Infobörse und Treffpunkt für Gruppen sein sollte, längst zur preiswerten Serviceagentur der schwulen Gewerbetreibenden entwickelt.

"Das Stadtfest", so Finke, "stand damals wie heute unter dem Motto 'Gemeinsam sicher leben'. Anfang der neunziger Jahre gab es eine Reihe von Gewalttaten gegen Ausländer, aber auch gegen Schwule. Die Szene war verunsichert und die Wirte mehrerer Kneipen sorgten sich um die Sicherheit ihrer Kundschaft." Naturgemäß bringen Gäste, die aus Angst wegbleiben, wenig Umsatz.

"Gemeinsam mit der Polizei wollten wir gegen die ausufernde Gewalt ein Zeichen setzen", so Finke weiter (der inzwischen mit dem stramm rechten Innensenator Schönbohm Strategien gegen antischwule Gewalt diskutierte, die freilich fast immer von Türken, Rumänen etc. ausgehen soll). Lesben und Schwule würden "nicht als ernstzunehmender und gewichtiger Wirtschaftsfaktor wahrgenommen"; sie seien "ein Gewinn für die ganze Stadt", ließ Finke wissen. "Friedfertig, dynamisch und kreativ" stünden sie als Trendsetter "an vorderster Front der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung Berlins". So erkauft man sich heute die restriktive Toleranz, die man politisch nicht zu erkämpfen imstande ist.

Ähnlich wie in Berlin steht es in anderen Metropolen um den CSD. In der Rosa Zone erörterte 1995 Dirk Ruder die Frage, ob man im Ruhrgebiet noch einen CSD brauche: "Der politische Nutzen der CSD-Happenings zwischen Karneval und Kommerz ist längst bei Null angelangt - auch wenn er den MacherInnen Medienöffentlichkeit, Massenandrang und Super-Stimmung beschert hat."

Am Beispiel Kölns machte Ruder die Folgen der Kommerzialisierung klar: "Hielten es doch die VeranstalterInnen des Kölner Lesben- und Schwulentages in diesem Jahr glatt für überflüssig, der AIDS-Hilfe und anderen Selbsthilfegruppen auf dem Alten Markt, dem zentralen Veranstaltungsort, einen Standplatz zur Verfügung zu stellen. Statt dessen sollen sich dort ausschließlich schwule Kneipen ein wohlverdientes bzw. wohlverdienendes Stelldichein geben dürfen."

Konsequenterweise, so Ruder, sollte der CSD ganz der schwulen Wirtschaft überlassen werden: "Die haben Know-how, und niemand muß befürchten, daß sie - schnöde Inhalte - etwas anderes wollen, als Geld verdienen. Machen wir aus dem Christopher Street Day den 'Tag des schwulen Konsums'!"