Wie marktgerecht ist Gender?

Schwule und Lesben leben queer - die Wirtschaft entdeckt die Vorzüge flexibler Rollen. Der Literaturwissenschaftler Gert Mattenklott über Gender Studies und gesellschaftliche Modernisierung

Der Christopher-Street-Day ist kein skandalöses Ereignis wie noch vor 10, 15 Jahren und auch keine Veranstaltung mehr, die ausschließlich von Schwulen besucht wird. Ist die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber homosexuellen Frauen und Männern gewachsen?

Ja, sicher. Andererseits habe ich in diesen Tagen in den Nachrichten gehört, daß der Berliner Innensenator Jörg Schönbohm den Bezirksbürgermeistern die Kompetenz bestritten hat, zum CSD vor den Rathäusern Regenbogenfahnen aufzuziehen. Es gibt schon eine sehr viel größere Akzeptanz als noch vor Jahren, aber sie schließt nicht alle in gleicher Weise ein, im Gegenteil wird diese größere Akzeptanz von manchen auch als Provokation und Herausforderung empfunden, und so, glaube ich, ist das Thema nicht gegessen.

Weil die demonstrative Differenz auch ein Angriff auf die bestehenden Verhältnisse ist?

Auf Einstellungen. Es ist ein Unterschied, ob es Leute am Wochenende in die bunte Gegend um den Nollendorfplatz verschlägt, wenn dort Partys stattfinden, auf den Straßen alles vergnügt ist, und man gucken und sich irgendwie als Teilhaber fühlen kann. Da ist es einigermaßen leicht, Differenzen zu akzeptieren, und vielleicht ist es auch noch relativ leicht, eine rechtliche Gleichstellung zu akzeptieren, sofern man damit nicht selbst herausgefordert ist, so daß die eigenen Grenzen verletzt werden und man feststellen muß, daß die erotisch oder sexuell geprägten Lebensformen sich ganz anders vollziehen als die eigenen. Etwas, wo die Konfrontation unmittelbar in den Alltag hineingeht und mehr gefordert ist als eine bloß theoretische Akzeptanz oder eine allgemeine nette Gesinnung gegenüber anderen. Ich habe da auch gar keine Illusionen, sondern könnte mir vorstellen, daß es jederzeit und aus den unterschiedlichsten Anlässen auch Einbrüche in diese Akzeptanz geben könnte.

Gibt es Anzeichen dafür, daß die Emanzipation von Lesben und Schwulen hierzulande reversibel ist?

Ich neige nicht dazu, bei jeder Beleidigung, bei jedem Schwulenwitz "Faschismus" zu rufen. Eine gewisse Gelassenheit in dem Punkt ist schon angebracht, andererseits kenne ich selbst Menschen, die überfallen wurden, eben aufgrund von Schwulenhaß, und die alltäglichen Diskriminierungen sind mir sehr wohl bewußt.

Es besteht zwar kein Grund, die Situation der Schwulen in irgendeiner Hinsicht zu dramatisieren oder zu beklagen oder larmoyant zu werden. Es hat sich sehr viel geändert, aber auch in der Bundesrepublik ist das Erreichte nicht ein für allemal gesichert, gerade jetzt nicht. Unter den Bedingungen des wiedervereinigten Deutschland gibt es schon auch Rückschläge, auch atmosphärisch: Man muß aufmerksam bleiben.

Die heterosexuelle Mehrheit hat den CSD vor allem als eine Art Karneval akzeptiert, es gilt der Ausnahmezustand für einen Tag.

Die schwule Szene hat einen sehr großen Unterhaltungswert und macht ihn bei allen möglichen Gelegenheiten öffentlich. Bei der Love-Parade zum Beispiel überlagern sich verschiedenen Szenen. Gerade in solchen Situationen kann jeder mal probieren, wie es denn wäre, aus der eigenen Haut herauszufahren. Die Lust am Rollenspiel ist unverkennbar größer geworden, die allgemeine Tendenz zur Androgynie. Das kommt natürlich der Emanzipation gleichgeschlechtlicher Lebensformen zugute, aber auch nur in einem bestimmten Spektrum, zum Beispiel in der Jugendkultur. Das mag aber schon für Ältere ganz anders sein und ist sicher noch einmal anders in den verschiedenen sozialen Milieus. Zum Beispiel gibt es sehr markante Unterschiede zwischen der alten Bundesrepublik und den neuen Ländern. Man kann beobachten, daß die Szene in West-Berlin an den Wochenenden großen Zulauf aus der Umgebung hat, weil man sich in den Kleinstädten der Mark Brandenburg und Sachsen-Anhalts als Homosexueller nicht wohlfühlt.

Ist das Ausprobieren und Spielen mit anderen Identitäten, wie es zunächst nur innerhalb der schwul / lesbischen Subkultur möglich war, ein Beleg dafür, daß uns die tradierten Geschlechterrollen insgesamt zu eng geworden sind?

Die Gender-Theorie und ihre Möglichkeiten haben einerseits als Avantgarde gewirkt, gerade auch mit dem hohen lesbischen Anteil übrigens an Theoretikerinnen, andererseits aber wäre eine größere Wirksamkeit diesen Theorien nicht beschieden gewesen ohne diesen ständigen Bezug auf eine soziale Bewegung, sie wäre Seminargeschwätz geblieben. Ich glaube, daß die hohe Ausdifferenzierung auch der Gender-Theorien dieser Bewegung mit zu verdanken ist, die dies immerzu einfordert, auch, um ihre diversen Lebensformen jeweils auch zur Sprache bringen zu können.

Sicherlich hat die These, daß das Geschlecht lediglich eine kulturelle Konstruktion ist und Heterosexualität auf einem "Gerücht" beruht, wie Judith Butler schreibt, inzwischen eine gewisse Popularität erlangt. Aber werden nicht zugleich die Auswirkungen des Gender-Gedankens auf die gesellschaftliche Praxis maßlos überschätzt?

Ich glaube, daß in diesem Fall besonders deutlich wird, daß es eben keine Utopie ist, weil man bestimmte soziale Rollen, die historisch besetzt sind, als sozial unvorteilhaft empfindet und bestimmte Festlegung auf Heterosexualität und Monogamie zu Zeiten der Mobilisierung der Arbeitskraft der Modernisierung im Wege stehen könnten. Daß es sich deshalb empfehlen könnte, flexiblere Geschlechtsrollen zu haben - das ist die eine Seite, und man kann sagen, sicher, es spielt eine große Rolle, daß die Schwulenbewegung, die vormals eine Avantgarde einer sexuellen Minderheit war, plötzlich die Avantgarde des Modernisierungsprozesses geworden ist und deshalb mit bestimmten Tendenzen der zeitgenössischen Gesellschaft in ihrem ökonomischen Verhalten

... ins Konzept paßt ...

Ja, sie paßt ins Konzept und ist plötzlich eine konforme Bewegung und findet deshalb hohe Akzeptanz, man kann sagen, sie steht gewissermaßen an der Spitze des Mobilisierungsprozesses, es sind brave Konsumenten. Man kann sie ansprechen. Von der Modebranche angefangen bis hin zum Edelkonsum der Gastronomie, das ist eine Sache.

Die andere aber bleibt nach wie vor die soziale gesellschaftliche Realität, also daß Menschen, die anders sind, sich anders verhalten, unter Lebensbedingungen groß werden und leben müssen, die ihnen feindlich sind - nach wie vor, darauf kann man nicht reagieren, indem man einfach sagt, es wäre schön, wenn die Menschen etwas weniger männlich oder etwas weniger weiblich wären.

Die Wirtschaft fordert den flexiblen Mitarbeiter, Personalchefs verlangen von den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen neben fachlicher Qualifikation soziale Kompetenz, Team- und Kommunikationsfähigkeit etc. - Verhaltensweisen, die als typisch weiblich gelten. Ist das nicht auch ein Angriff auf ein männliches Dominanzverhalten, wenn dem Mitarbeiter plötzlich Kooperationsfähigkeit abverlangt wird?

Ich glaube, daß in allen gesellschaftlichen Bereichen die Fähigkeit zur Kooperation eine Qualität ist, ohne die nichts mehr geht. Man kann nicht im Team arbeiten, wenn man nicht bereit ist, Dominanzansprüche zurückzustecken, mindestens in andere, flexiblere Formen zu überführen oder sie zu maskieren, muß also plötzlich Eigenschaften entwickeln, die nicht charakteristisch männlich sind im Hinblick auf die Traditionen dieser Männlichkeitsvorstellungen.

Deshalb glaube ich, die Feminisierung unserer Gesellschaft vollzieht sich nicht durch die Aufweichung der Geschlechtsrollen, Gesinnungswandel oder anthropologische Veränderungen, sondern durch Forderungen, die im Interesse dieser Gesellschaft an allen wichtigen Fronten heute liegen. Man kann ökonomische Effizienz und gesellschaftliche Produktivität in vielen Bereichen nicht anders haben als durch den Abbau dieser Rollen. Mit anderen Worten, die Aufhebung der Geschlechterpolarisierungen - zum Teil noch des 19. Jahrhunderts - ist ein Modernisierungsprozeß, ohne den die Gesellschaft heute nicht mehr konkurrenzfähig ist.

Was interessiert Sie persönlich am Gender-Thema?

Ich habe zu diesem Thema eine alte Affinität, weil ich durch Zufall Teilhaber der Christopher-Street-Day-Demonstrationen war in New York, in Manhattan. Und daher mit besonderem Vergnügen und sentimentalen Erinnerungen die heutigen Christopher-Street-Day-Demonstrationen mitfeiere in Erinnerung an die Anfänge.

Ist die subversive Idee des Christopher-Street-Day nicht obsolet geworden, auch deshalb, weil die Kategorien "lesbisch", "schwul" gar nicht mehr passen?

Vielleicht ist das generationenspezifisch. Es ist bestimmt so, daß jüngere Generationen heute weniger auf bestimmte Geschlechtstypik und ihre Lebensform festgelegt sind. Die Christopher-Street-Days vergangener Generationen waren stark durch lesbische oder schwule Lebensformen bestimmt. Heute sind Generationen daran beteiligt - und sehr vergnügt daran beteiligt -, die sich selbst als queer sehen und nicht in dieser Weise polarisieren zwischen schwul oder lesbisch, sondern irgendwo dazwischen sind, quer durch, transgender oder wie auch immer.

Man spricht heute in der jüngeren Generation mit viel mehr Selbstbewußtsein von den diversen Sexualitäten, die möglich sind und nicht nur von definierten Bewegungsgruppen, wie sie historisch geworden sind. Insofern hat sich da sehr, sehr viel geändert. Aber nach meiner Beobachtung sehen sich auch die Jüngeren mit ihrem Queer-Bewußtsein durchaus noch als Herausforderer. In den USA zumindest bedeutet queer eine politische Herausforderung, bei uns ist vielleicht der Affekt gegen gegen eine gewisse Art von Politisierung noch typischer.

Übrigens stellt sich die Frage, wie obsolet heute die subversive Idee des CSD ist, in den Metropolen anders als in der Provinz. Schließlich: Je mehr die Welt sich weitet und je mehr wir als Touristen oder beruflich an anderen Kulturen teilhaben, desto deutlicher sind wir uns auch bewußt, auf was für einer Insel wir doch leben in den westlichen Kulturen Mitteleuropas - in anderen Teilen der Welt sieht das völlig anders aus. Schon im Hinblick darauf, glaube ich, wäre es verfrüht, das ganze Thema schon zu den Akten zu legen.