Haftbefehl statt Zivildienst

Wer nicht dienen will, muß fühlen: In den letzten Wochen sprachen Gerichte ungewöhnlich harte Strafen gegen Totalverweigerer aus

Heiner Geißler hatte schon in den achtziger Jahren genau gewußt, wo Zivildienstleistende am besten ihren Zweck erfüllen könnten. Zum "Entschärfen von Blindgängern" sollten sie im Verteidigungsfall eingesetzt werden, erklärte der damalige Bundesminister für Familie, Jugend und Gesundheit in einer Anhörung zum Kriegsdienstverweigerungsgesetz.

Zwar redet heute kaum noch jemand von diesen Plänen, an der rechtlichen Situation hat sich deshalb jedoch nichts geändert. Im Rahmen des Nato-Konzepts der Gesamtverteidigung zählt der Zivi als soldatischer Erfüllungsgehilfe. Um sich dieser Einbindung zu entziehen, gibt es nur einen Weg: die totale Krigesdienstverweigerung (TKDV), die im Wehrpflichtgesetz allerdings nicht vorgesehen ist. Deshalb führt dieser Weg manchmal direkt in den Knast, wie der Berliner Christof Haug jetzt erleben mußte.

Wegen Fahnenflucht und Befehlsverweigerung wurde der Totalverweigerer am 26. Juni zu einer Freiheitsstrafe von elf Monaten ohne Bewährung verurteilt. Das Amtsgericht Berlin-Tiergarten fällte damit das härteste Urteil wegen TKDV, seit die Wehrpflicht in Berlin vor acht Jahren wiedereingeführt wurde.

Doch auch im Vergleich mit Urteilen außerhalb der Hauptstadt ist das Strafmaß, das selbst die zehnmonatige Wehrdienstzeit übersteigt, unverhältnismäßig hoch. Für Ralf Siemens von der Berliner "Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär" fällt es "völlig aus dem Rahmen". Im Schnitt würden Totalverweigerer zur Zeit mit fünf bis sieben Monaten bestraft.

Die ungewöhnliche Härte der Berliner Behörde ist jedoch kein Einzelfall. Drei Tage vor dem Prozeß gegen Haug hatte es im Amtsgericht von Frankfurt/Main einen ähnlichen Fall in Sachen TKDV gegeben. Noch vor seinem Prozeß erhielt Torsten Froese einen Haftbefehl, kurze Zeit später mußte er gar in die Justizvollzugsanstalt Weiterstadt. Anders als Haug hatte Froese zunächst den Kriegsdienst mit der Waffe nach Artikel 4 des Grundgesetzes erfolgreich verweigert, den Zivildienst aber nicht angetreten. Bereits 1993 war er deshalb wegen Dienstflucht nach dem Zivildienstgesetz zu drei Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt worden.

Nach einer erneuten Einberufung, der er nicht Folge leistete, sollte am 23. Juni der zweite Prozeß stattfinden. Doch zu Beginn des Verfahrens lehnte es Richterin Mickert ab, die beiden Wahlverteidiger Froeses, zwei ehemalige Totalverweigerer, zuzulassen. Um einen Befangenheitsantrag gegen die Juristin zu beraten, zogen sich Verteidiger und Angeklagter auf den Korridor zurück, wurden von dort aber unverrichteter Dinge von Justizbeamten in den Gerichtssaal zurückgezerrt. Die Folgen der Auseinandersetzungen: Einem der beiden Anwälte wurde das Schlüsselbein gebrochen, Froese selbst erhielt einen Haftbefehl. "Ohne rechtliche Grundlage", so Detlev Beutner vom Urteils- und Informationsservice Totale Kriegsdienstverweigerung, sitze der Kriegsgegner seitdem in Haft. Die Strafprozeßordnung sieht Haftbefehle für Angeklagte vor, die zur Hauptverhandlung nicht freiwillig kommen und deshalb vorgeführt werden müssen.

Diese handgreifliche Verhandlung hat eine lange Vorgeschichte: Noch 1993 wurden die Gewissensgründe Froeses gegen jeden Kriegsdienst gerichtlich bescheinigt. Und weil das Grundgesetz die zweifache Bestrafung für dieselbe Tat verbietet, ließ die Frankfurter Staatsanwaltschaft das zweite Verfahren wegen der Gefahr der Doppelbestrafung erst gar nicht zu. Daraufhin legte das Bundesamt für den Zivildienst (BAZ) Beschwerde ein, die wiederum vom Oberlandesgericht der Rhein-Main-Metropole abgewiesen wurde. Schließlich, so entschieden die Richter, könne möglicherweise ein Verfassungsbruch vorliegen. Das BAZ setzte den Prozeß dennoch mit Hilfe eines Klageerzwingungsverfahrens durch.

Galt das BAZ bislang im Vergleich zur Bundeswehr als weniger hartnäckig, so scheint mit dem Vorgehen im Fall Froese auch hier eine neue Form von "Wehrgerechtigkeit" einzukehren. Und noch eine andere, informelle Regel ist mittlerweile außer Kraft gesetzt: Bisher schützte eine anerkannte Gewissensentscheidung zumindest inoffiziell vor Wiedereinberufung und relativ sicher vor doppelter Verurteilung.

Für Fahnenflüchtige gilt seit dem Erlaß des Verteidigungsministers Volker Rühe vom 18. Februar 1998 jedoch, daß aus der Truppe nur entlassen wird, wer zu mindestens sieben Monaten Haft verurteilt worden ist. Nach fünf oder sechsmonatigen Knaststrafen oder Urteilen auf Bewährung folgt also künftig eine neue Dienstantrittsaufforderung und damit immer potentiell die Doppelbestrafung. Denn wer sich, wie die meisten der 150 bis 200 jährlich bekanntwerdenden TKDV-Fälle, aus politischen Gründen gegen jeden Kriegsdienst ausspricht, wird auch bei einer zweiten, dritten oder vierten Verhandlung nicht anders entscheiden.