Lottomania

Gefährliche Orte XXXV: Die Lottoannahmestelle um die Ecke. Was passiert, wenn sich 1,2 Millionen Berliner einen 35-Millionen-Mark-Jackpot teilen

Sonnabend, Viertel nach eins, mächtig was los im Lottoladen am Kottbuser Damm in Neukölln. Peter (32) hat schon seit sechs Jahren nicht mehr Lotto gespielt und findet sich überhaupt nicht zurecht mit den vielen neuen Formularen. Systemschein, Kombi-System, Normalschein und ein Extra-Schein für die langen Ferien. Und dasselbe noch mal fürs Mittwochslotto. Da kommt einiges zusammen, was sich da nach der Lotto-Schlacht vom Vormittag ziemlich unordentlich auf dem kleinen Lotterie-Tisch tummelt. Noch bis 16 Uhr kann getippt werden - Online-Lotto macht's möglich.

Nach einer Viertelstunde traut sich Peter endlich, an der Lottoschein-Annahme zu fragen, welches für ihn der richtige Zettel ist. Alles kein Problem, vier Tips inklusive Spiel 77 und Super 6 für 9,80 Mark. Das ist noch die günstigere Variante. Die Bild-Zeitung hat für ihren Mega-Schein, der am Montag unter notarieller Aufsicht verlost wurde, 48 450 Mark ausgegeben: 20 aus 49, Vollsystem. Logisch, daß Peter da nicht mehr durchblickt.

Die Frau an der Annahme bleibt geduldig: "So viele Anfänger habe ich hier noch nie gesehen." Kein Wunder, schließlich geht es um das große kleine bürgerliche Glück. Nachdem der 27-Millionen-Mark-Jackpot vom vorangegenen Wochenende in der Schatztruhe der Lottogesellschaft liegengeblieben war, hatte sich die Gewinnsumme an diesem Wochenende auf 35 Millionen Mark erhöht. Da läßt sich schon einiges mit anstellen. Allein in Berlin haben 1,2 Millionen Menschen einen Tipschein abgegeben - das sind doppelt so viele wie an normalen Wochenenden und immerhin rund die Hälfte der erwachsenen Stadtbewohner. Alle anderen waren vermutlich gerade im Urlaub. Maria (57) wohnt gleich nebenan und kann die ganze Aufregung nicht verstehen. Sie spielt jede Woche: acht Tips, "ohne den ganzen Schnickschnack", macht 10,30 Mark. So richtig gewonnen hat sie noch nie, ab und zu mal 21,50 Mark für drei Richtige, einmal waren es auch vier. Die Zahlen sind seit Jahren dieselben, zusammengestellt aus Geburtstagen, Hausnummern und anderen Glückszahlen. Auch diesmal bleibt der Einsatz gleich: "Ich gewinn' ja doch nichts ... Aber probieren muß man's trotzdem." Peter geht raus und nickt: "Wenn der Jackpot bleibt, spiele ich nächste Woche wieder." Der Jackpot bleibt natürlich nicht. Entweder er wird abgeräumt oder noch einmal anständig aufgestockt. Schließlich rechnet sich die Deutsche Klassenlotterie einen Umsatz von 400 Millionen Mark an diesem einen Wochenende aus. Damit ließe sich schon einiges anstellen ...

Die Lottomania war aber auch schon in der vergangenen Woche nicht schlecht. Die B.Z. zitierte auf einer Extra-Doppelseite sogar Ludwig Marcuse: "Gepriesen sei der Zufall. Er ist wenigstens nicht ungerecht." Auf solche Art Gerechtigkeit freuten sich die Befragten. Marina (54) kauft als erstes "neue Fahrräder für mich und meinen Mann". Und was passiert mit den restlichen 34 995 000 Mark? Auch Andrea (32) sieht angesichts der hohen Summe "Probleme mit dem Geldausgeben", Andreas (33) denkt nur an eine "Riesenfete", Lisa (49) muß "Schulden begleichen", Kerstin (29) will "ein brandneues, schickes Auto kaufen", Beate (32) "einen Flugschein machen" und Peter (26) "das Geld nach Luxemburg bringen" - wegen der Zinsen. Anlagekonzepte, die jeden seriösen Steuerberater erschaudern lassen.

Miriam, Medizinstudentin aus München, hat einen prima System-Spielschein von Bild geschenkt bekommen - getippt von Franz Beckenbauer persönlich. Miriam plant, vernünftig mit dem vielen Geld umzugehen. "50 Prozent anlegen, 50 Prozent ausgeben." Sie will dann aber trotzdem noch Ärztin werden: "Mein Lebensziel bleibt es auch dann, anderen Menschen zu helfen." Das sehen nicht alle so. "Lotto-Paul" gewann 1980 1,6 Millionen Mark, was damals noch eine Menge Geld war: Er kaufte sich zwei Gaststätten, einen Bungalow, eine thailändische Frau und eine Lebensweiseheit: "Wenn ihr reich seid, paßt gut auf!" Reinlegen lassen von einem cleveren Anlageberater hat er sich.

Nie wieder arbeiten! Keine materiellen Sorgen mehr! lauten heute die revolutionären Verheißungen der Lotterie. Als Ausgangsbasis gar nicht schlecht. Experten raten sogar zur "Glücksspirale" - 10 000 Mark Grundrente im Monat, da wird jeder Grüne blaß. Weitergehende Konzepte wie die Luxusjacht mit Heimathafen Victoria/Seychellen oder den eigenen Golfplatz mit Flughafenanschluß sind jedoch aus dem Denken verschwunden. Bei der Fußball-WM haben ARD und ZDF sogar als Hauptprämie für ihre durchschaubaren Quizfragen einen Renten-Vorsorgeplan ausgesetzt. Die Existenzängste sind so groß, daß die Wünsche immer kleiner werden.

So träumt die Kolmunistin der Berliner Zeitung von ihrer Kündigung, einer Enduro und der Schönheitskur in New York. Bleiben immer noch mindestens 34,9 Millionen Mark zum Ausgeben, Anlegen, Verschenken.

Aber was soll man nur tun mit all dem Geld, das man am Ende gar nicht gewinnt? Ich z.B. habe 10/12/18/28/35/37, 3/8/20/23/32/35, 11/12/27/30/38/42 und 6/10/11/28/34/48 getippt - das sind ganze drei Richtige auf vier Spiele verteilt! Bei 7/11/15/22/37/39 mit Superzahl 3 hätte das schon ganz anders ausgesehen. Nächstes Mal vielleicht.

Und was hätte ich angestellt mit dem Jackpot? Einen anständigen Rasierpinsel könnte ich gut gebrauchen, eine Familienpackung Kugelschreiber würde ich für die Redaktion kaufen, die Asterix-Sammlung endlich komplettieren, neue Fliesen im Bad müssen her (die braunen sind wirklich scheußlich!), einen Riesen-Leder-Chefsessel bei Ikea besorgen, der Heckscheibenwischer vom Fiat müßte mal repariert werden, irgendwas gegen die Ameisen in der Küche tun, jeden Tag B.Z. und Bild kaufen, einen neuen Antriebsriemen für den Dynamo am Fahrrad, zwei saubere Aschenbecher, eine extragroße Portion Chips, Modemanschluß fürs Handy, "X-Files"-Soundtrack, Druckerkatusche, Zweitwagen, Farbfilme, Zitronenbonbons, Wein ist alle, Milch auch. Ist immer noch Geld übrig?

Alles über den nächsten Jackpot erfahren Sie bei der Deutschen Klassenlotterie Berlin unter 030/8905-0.