Schäuble, der Rollstuhl und das Kanzleramt

Mangelnde Symbolkraft

Privatsache ist der Körper eines in der Öffentlichkeit stehenden Menschen wohl noch nie gewesen. Kohls Abspeckversuche, Scharpings Fahrradunfall und Clintons Testosteronspiegel bewegen immer wieder die Gemüter. Die entsprechenden Berichte sind meist im "Vermischten" zu finden.

Zur Zeit dagegen sind GesundheitsexpertInnen auch im Politikteil der Zeitungen gefragt. Thema: Wolfgang Schäubles Behinderung. Nicht nur bunte Blättchen wie Gala räsonieren über die Folgen seiner 1990 durch ein Attentat verursachten Querschnittslähmung, auch der Spiegel hat das Thema entdeckt. Seitenlang ließ sich das Hamburger Montagsmagazin über mögliche Druckgeschwüre, Blasenkatheter und die günstigen Merkmale von Schäubles "prämorbider Persönlichkeit" aus, nämlich Disziplin, Ehrgeiz und Sportlichkeit, die dem Chef der Unionsfraktion jetzt zugute kämen.

Besonders seine glückliche Ehe mit Ingeborg Schäuble wirke Wunder, wissen die Experten vom Spiegel. Gerade Frau Schäuble ist jedoch an der neuerlichen Personaldiskussion in und um die CDU-Führung nicht unbeteiligt: Sie vertraute dem stern-Redakteur Hans-Peter Schütz in einem Anfang August veröffentlichten Interview an, sie habe "sehr große Bedenken" gegenüber der möglichen Kanzlerschaft ihres Mannes. Sie findet, "daß das ein Amt ist, das unheimlich viel Kraft kostet und ihm noch weniger Spielraum lassen würde", und glaubt im übrigen "daß es nicht leicht wäre, der Öffentlichkeit das Bild eines Kanzlers im Rollstuhl zu vermitteln".

Welche Motive auch immer sich hinter dieser Aussage der Insiderin verbergen, Ingeborg Schäuble traf ins Schwarze. Das Tabu war gebrochen, endlich darf ungeniert die Frage gestellt werden, ob ein "Krüppel" als Kanzler taugt. Seither werden allerorten ExpertInnen bemüht, um die Fragen zu beantworten: Ist man mit einer Querschnittslähmung auch leistungsfähig genug? Und ist ein Leben mit dieser Einschränkung nicht ein großes Trauerspiel, ja überhaupt noch "lebenswert" (stern)?

Wohltuend hebt sich die Antwort des Unfallchirurgen Gerhard Exner im aktuellen stern von dieser Art Fragen ab: Das Ganze sei keine medizinische, sondern eine politische Frage. Schäuble könne seine Arme, vor allem aber seinen Kopf gebrauchen - medizinisch stehe seiner Kanzlerschaft nichts im Wege.

Es scheint tatsächlich nicht die mögliche gesundheitliche Belastung Schäubles zu sein, die der Republik so viel Sorgen bereitet. So sinniert der Spiegel: "Kann ein Mann, gefesselt an den Rollstuhl, seit knapp acht Jahren, sich die Kanzlerschaft zumuten - und ist er den Deutschen zuzumuten?" Es ist das nationale Ego, das zu leiden hätte: Wie sähe das denn aus, wenn auf einem Gipfeltreffen alle RegierungsvertreterInnen stehen und nur einer, ausgerechnet der deutsche, sitzt? Undenkbar! Schäuble beim Bad in der Menge? Unsichtbar! Eine den Nationalstolz kränkende Vorstellung hat der ehemalige Innenminister selbst in Umlauf gesetzt: "Warum kann ich nicht Kanzler werden? - Weil ein Krüppel keine Parade abnehmen kann", vertraute Schäuble verunsicherten MedienvertreterInnen an.

Wenn es allein um die physische Belastbarkeit eines Mächtigen ginge, müßte Kohls Übergewicht ebenso Spekulationen über das Herzinfarktrisiko oder mögliche Bandscheibenvorfälle auslösen - die Woche nannte in ihrem jüngsten Special zum Thema Übergewicht "Dicke" sogar "schwer behindert". Doch der Möchtegern-Weltmacht kommt ein "stattlicher" Kanzler gerade recht: Wer würde das kapitalkräftige Deutschland besser symbolisieren als Kohl?

Bei Schäuble hingegen sähe das anders aus. Der Symbolwert eines Rollstuhlfahrers hinsichtlich staatsmännischer Tugenden wie Autorität, Härte, Durchsetzungskraft, Männlichkeit und Gesundheit scheint für viele - anders als beim zweiten Thronfolgeanwärter Volker Rühe - gegen Null zu tendieren. Und wie sollen die gegenüber behinderten und deswegen "minderwertigen" Menschen sich selbst aufwertenden StaatsbürgerInnen zu einem rollstuhlfahrenden Staatsoberhaupt aufblicken? Die Hierarchie, an deren Spitze Schäuble qua Amt stehen würde, wäre auf dieser Ebene auf den Kopf gestellt - und das verwirrt die Nation.

Doch zur Erleichterung der Deutschen bleibt die Behinderung Schäubles weitgehend unsichtbar. Zu sehen ist ohnehin fast immer nur sein Oberkörper, und aufs Rednerpult hauen kann er ja auch.