Stets zu Diensten

Die Disziplinarkammer des Bremer Verwaltungsgerichts mag den sexuellen Mißbrauch durch einen Polizisten nicht mit dessen Entlassung ahnden
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Wer als Polizist eine Gefangene zu Sex zwingt, soll weiter im Polizeidienst arbeiten dürfen. So muß man die Disziplinarkammer des Bremer Verwaltungsgerichts verstehen, die Anfang August die Entlassung des Bremer Polizeibeamten Reiner W. aufgehoben hat. Der Beamte sollte im Juni 1996 eine 44jährige Frau, die sich in der Polizeiwache Bremen-Vegesack im Gewahrsam befand, zur Vernehmung überführen - eine Gelegenheit, die Reiner W. nutzte, um die Frau zum Oralverkehr zu zwingen. Dabei fühlte er sich wohl von der Tatsache in Sicherheit gewiegt, daß die Frau, die wegen "Alkoholauffälligkeit" im Gewahrsam war, im Zweifelsfall nicht die glaubwürdigste Zeugin abgegeben hätte.

So schuldlos fühlte sich der Polizist, daß er gegenüber seinen Kollegen, als diese nach der Klage der betroffenen Frau die Ermittlungen aufnahmen, frank und frei die Tat einräumte. Mit einer entscheidenden Einschränkung: Die Frau habe es doch so gewollt, ihn quasi dazu gedrängt.

Zuerst schien es so, als habe sich der Polizist in seiner Hoffnung auf Verständnis verspekuliert - der Fall erregte einige lokale Presseaufmerksamkeit, und die Bremer Behörden unternahmen alle Anstrengungen, den Schandfleck aus der Polizei zu entfernen. Der dabei an den Tag gelegte Eifer mag auch damit zusammenhängen, daß die Bremer Polizei von Menschenrechtsgruppen wiederholt wegen Übergriffen gegenüber Nichtdeutschen kritisiert worden war, unter anderem wegen der berüchtigten Praxis der zwangsweisen Brechmittelvergabe.

Den Versuchen der Schadensbegrenzung hat die Bremer Disziplinarkammer vorläufig einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nicht die "ultima ratio", das letzte Mittel des Disziplinarrechts, nämlich die Entlassung, sei - so die Richter - die angemessene Sanktion für eine solche Tat, sondern es reiche, die Dienstbezüge von Reiner W. zu kürzen. Ein Urteil, das im krassen Widerspruch steht zu Entlassungen etwa von Postbeamten, die wegen deutlich geringerer Verfehlungen ihren Job verloren. "Flapsig gesagt, fast wegen Briefmarkendiebstählen", wie ein Mitarbeiterin der Senatskommission für Personalfragen gegenüber Jungle World meint.

Ermöglicht wurde das Urteil der Richter auch durch die Art und Weise, wie die Strafjustiz diesen Fall verfolgte. Hätte nämlich Reiner W. für seine Tat eine Haftstrafe von mindestens zwölf Monaten erhalten, wäre eine Entlassung nicht nötig gewesen, da er seine Stelle bereits qua Gesetz verloren hätte - das Disziplinargericht wäre gar nicht zuständig gewesen. Die Staatsanwaltschaft schien jedoch den Fall schnell und ohne großes Aufsehen vom Tisch haben zu wollen - statt einer Verurteilung erließ sie einen Strafbefehl. Bei dieser Verfahrensmöglichkeit erläßt die Staatsanwaltschaft eine Strafe, die ein Richter bestätigen muß. Wenn der Betroffene keinen Widerspruch einlegt, wirkt der Strafbefehl wie ein Urteil. Vorgesehen ist dieser Vorgang nur für geringfügige Vergehen, bei denen der Sachverhalt klar zutage liegt, und er soll der zügigen Erledigung von Alltagsfällen dienen.

Als solchen Bagatellfall schätzten Staatsanwaltschaft und Richter diese Tat offenbar ein. So erhielt Reiner W. durch den Strafbefehl bloß eine Geldstrafe von 6 000 Mark wegen "sexuellem Mißbrauchs von Gefangenen". Die Tatsache, daß Staatsanwaltschaft, der Täter und der Richter, der den Strafbefehl unterschrieb, sich sozusagen einigen konnten, hatte Folgen: Der betroffenen Frau war es unmöglich, in einer Verhandlung als Nebenklägerin ihre Rechte wahrzunehmen. Eine höhere Strafe war ausgeschlossen. Und das Disziplinargericht an die Tatsachenfeststellungen des Strafbefehls gebunden.

Das Bestreben der Staatsanwaltschaft, schnell und einfach seine Fälle vom Schreibtisch zu kriegen, steht insoweit etwas im Widerspruch zu den Bestrebungen der Disziplinarbehörden, klagt man bei der Senatskommission, die weiterhin die Entlassung des Beamten anstrebt.

Das milde Urteil für Reiner W. hat aber noch einen weiteren Grund. Seit Jahren wird das deutsche Sexualstrafrecht von feministischen Juristinnen wegen seiner Lückenhaftigkeit kritisiert. So konnte Reiner W. damals nicht wegen "sexueller Nötigung" verurteilt werden, weil ihm nicht nachgewiesen werden konnte, mit körperlicher Gewalt gedroht zu haben. Und eine "Vergewaltigung" im juristischen Sinne war die Vergewaltigung schon deswegen nicht, weil es sich hier "bloß" um Oralverkehr gehandelt hatte.

In den letzten beiden Jahren wurden - weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit - im Rahmen der umfassenden Verschärfungen der Strafgesetze auch die "Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung" neu definiert. Nach den neuen Regelungen ist es bereits "sexuelle Nötigung", wenn der Täter eine hilflose Lage seines Opfers ausnutzt, und Vergewaltigung, wenn er es zu besonders erniedrigenden sexuellen Handlungen zwingt. Ob allerdings die Gerichte diese Möglichkeiten, die das neue Recht bietet, nutzen werden, um in Zukunft in Fällen wie dem von Reiner W. schärfere Strafen auszusprechen, muß sich erst noch zeigen.

Fürs erste wird über die Frage, ob ein Polizist, der Gefangene sexuell mißhandelt, diensttauglich ist, der Disziplinarhof entscheiden, bei dem die Bremer Senatskommission in Berufung gegangen ist. Sollte die Entlassung auch hier aufgehoben werden, so hat die Bremer Polizei angekündigt, werde man den betreffenden Beamten in eine Stellung versetzen, in der er auf keinen Fall Kontakt mit Publikum haben werde. Auf die Frage, wie eine solche Stelle aussehen könnte, wußte der Polizeisprecher auch gleich eine Antwort: "Identitätsfeststellungen, Fingerabdrücke nehmen, und so."