Christoph Hein über Versailles

Nicht schuldig

Man weiß es längst, selbst unter Linken: Das Vertrauen in die Politik ist nach Jahren des Reformstaus und durch zunehmende soziale Ungerechtigkeiten erschöpft. Es muß etwas geschehen, und da sind vor allem die Intellektuellen gefragt, z.B. Christoph Hein, Mitherausgeber der Wochenzeitung Freitag. Beim Treffen der SPD-Spitze mit intellektuellen Sympathisanten der Partei hat er sich dazu seine Gedanken gemacht, die auch im Freitag zu lesen sind.

"Hitler gelang es, in den ersten fünf Jahren seiner Herrschaft bei einem großen Teil der Bevölkerung - und nicht nur in Deutschland - Anerkennung und Respekt zu erwerben", so charakterisiert Hein das Gegenmodell zur derzeitigen Vertrauenskrise der Politik. Dafür seien zwei Leistungen der Nazis entscheidend gewesen. Erstens: "Hitler gelang es, durch ein radikales Arbeitsbeschaffungsprogramm die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland zu beseitigen." Und zweitens: "Hitler beseitigte alle Beschränkungen, die der Pariser Friedensvertrag Deutschland auferlegt hatte."

Zukunftsträchtig am nationalsozialistischen "Arbeitsbeschaffungsprogramm" war tatsächlich zweierlei. Zum einen, daß es auf der Grundlage einer forcierten Rüstungskonjunktur durchgeführt wurde, die unmittelbar zur Vorbereitung des deutschen Vernichtungskrieges entfesselt worden war. Zum anderen, daß es durch eine Rückkehr zur absoluten Mehrwertproduktion, also durch die radikale Ausbeutung der Ware Arbeitskraft, in Schwung gebracht wurde. Daß damit der Ausschluß von Juden und anderer "Nichtarier" aus der Ökonomie einherging, scheint Hein genausowenig zu stören wie seine sozialdemokratischen Zuhörer.

Der zweite Teil der Würdigung sollte denen sowieso bekannt vorgekommen sein, sofern sie sich etwas mit ihrer Parteigeschichte auskennen. Immerhin war es Otto Braun, letzter sozialdemokratischer Ministerpräsident Preußens, der auf die Frage nach den Ursachen des Nationalsozialismus die knappe Antwort gab: "Versailles und Moskau". In der Weimarer Republik und noch lange danach war man sich bis weit in sozialdemokratische Kreise mit Hein einig, daß der Vertrag ein Diktat sei und deshalb "schädlich und demütigend". Inzwischen hat selbst die notorisch konservative Geschichtswissenschaft zugeben müssen, daß die Folgen von Versailles keineswegs so katastrophal für die deutsche Wirtschaft waren und die SPD sehr viel mehr Schaden angerichtet hat, indem sie in die Hetze gegen den Friedensvertrag teilweise miteinstimmte.

Hein sucht in seinen "Bemerkungen" nicht nur gute Argumente für die Nazis von damals, sondern auch für die von heute. "Viele, die in meinem Land rechtsradikal wählen werden, sind - nach meinen Erfahrungen - nicht fremdenfeindlich und auch nicht, noch nicht, rechtsradikal. Es sind unsere Mitbürger und unsere Kinder, die in unserer Gesellschaft keine Chance haben, die nicht gebraucht werden." So haben die alten und die neuen Nazis wenigstens eines gemeinsam: die Unschuld.

Damit erklärt sich schließlich der Titel des Vortrages: "Der 12. Geschworene". In dem Film "Die zwölf Geschworenen" von Sidney Lumet schafft es der zwölfte schließlich, seine Kollegen zur Unschuldsvermutung und damit zum Freispruch umzustimmen. Hein erkennt auf nicht schuldig - für die rassistischen DVU-Wähler und für das nationalsozialistische Deutschland. Das macht ihn als Intellektuellen interessant für die Politik. Wenn in Deutschland Intellektuelle Politik machen wollen, müssen sie sich blöd stellen - und die Deutschen exkulpieren.