Konsens bis 2001

Die SPD ist zum Atomausstieg entschlossen - im Konsens mit den AKW-Betreibern. Die Grünen vollziehen den "geordneten Ausstieg" - aus ihrem Parteiprogamm

Mit einem bundesweiten Aktionstag meldete sich die Anti-Atom-Bewegung am vergangenen Wochenende aus dem Sommerurlaub zurück. Durch Aktionen an vier Orten sollte der gesamte Brennstoffkreislauf thematisiert werden. Während in Greifswald Atomkraftgegner gegen die für 1999 geplante Inbetriebnahme des Zwischenlagers Nord protestierten, standen in Saarbrücken die Atomtransporte zu den französischen und englischen Wiederaufbereitungsanlagen im Vordergrund.

Die Aktionen am AKW Stade verwiesen auf den für die Betreiber sehr mißlichen Umstand, daß die Lagerkapazitäten des dortigen Abklingbecken erschöpft sind und zu Beginn des Jahres eine Abschaltung des zweitältesten deutschen Meilers droht. Es sei denn, die nach den Skandalen des Sommers bundesweit vorläufig gestoppten Transporte von hochradioaktivem Atommüll werden wieder aufgenommen.

Doch vergangene Woche sind die Chancen für AKW-Betreiber, ihre alten Brennstäbe demnächst wieder ins Ausland transportieren zu können, gesunken: Nachdem an einem zum AKW Krümmel transportierten leeren Atomcontainer Mitte letzter Woche eine erhöhte Radioaktivität gemessen wurde, fordert die SPD-Landesregierung jetzt sogar ein Transportverbot für schwach- und mittelradioaktiven Atommüll.

Während die Anti-Atom-Bewegung also in Sachen Atomtransporte die Öffentlichkeit eher auf ihrer Seite sehen kann, laufen die Wahlkampfdebatten

um den Atomausstieg weitgehend an ihr vorbei. Kein Wunder, steht sie doch mit ihrer Forderung nach sofortigen Ausstieg allein. SPD und Grüne versuchen zwar, die Anti-Atom-Stimmung für ihren Wahlkampf zu nutzen, vermeiden aber allzu konkrete Aussagen.

Den Sofortausstieg fordern auch die Bündnisgrünen öffentlich nicht mehr, obwohl dies in ihrem Magdeburger Wahlprogramm deutlich so formuliert wird. Ihre neue Zauberformeln lauten "geordneter Ausstieg" und "Ausstiegsgesetz". Den Anfangspunkt der Debatte um ein Atomausstiegsgesetz setzte zu Beginn des Jahres Rainer Baake, Staatssekretär des von den Bündnisgrünen geführten Umweltministeriums in Hessen. Die Variante "Sofortausstieg" wird von Baake in seiner "Gedankenskizze für einen Ausstieg aus der Atomkraft" als "vorhersehbare Niederlage" verworfen, vor allem wegen der in diesem Zusammenhang drohenden Entschädigungszahlungen sowie der Gefahr, daß das Bundesverfassungsgericht einen Sofortausstieg als unzulässige Enteignung der Kraftwerksbetreiber werten und damit rückgängig machen könnte.

In den Folgemonaten ließ das hessische Umweltministerium zwei wissenschaftliche Gutachten zum "geordneten Ausstieg" erstellen. Der anschließend erarbeitete Gesetzentwurf stützt sich vor allem auf das Gutachten des Kasseler Verfassungsrechtlers Alexander Roßnagel. Dieses schlägt eine dreifache Fristsetzung vor: Die Laufzeit von Atomkraftwerken wird demnach auf höchstens 25 Jahre festgesetzt. Den Betreibern soll nach Inkrafttreten des Gesetzes eine Übergangsfrist von einem Jahr eingeräumt werden. Nach spätestens fünf Jahren, also im Laufe des Jahres 2004, soll das letzte AKW abgeschaltet sein. Für die Abschaltung nach bereits einem Jahr wären die Meiler Obrigheim, Stade und Biblis-A vorgesehen.

Eine Konferenz der Anti-AKW-Bewegung geißelte die Strategie der Bündnisgrünen bereits als "Stillegungsverzögerunsplan". Auch innerhalb der Partei scheint man die Ablehnung des Entwurfs durch die eigene Basis zu befürchten, weshalb der Gesetzentwurf zwar grundlegend für die entsprechenden Koalitionsverhandlungen mit der SPD sein wird, aber selbst unter den eigenen Parteifunktionären zumeist nur in Auszügen bekannt ist.

Daß bei solch mittelfristigen Ausstiegsplänen immer mehr zu entsorgender Atommüll anfällt, scheint die Grünen nicht zu stören. Das Doppelte des jetzigen Bestands an abgebrannten Brennelementen sei bei einem Kraftwerksbetrieb bis 2010, also bei einem Ausstiegsplan über elf Jahre, zu erwarten, rechnete jüngst ein Gutachten von PanGeo und der Gruppe Ökologie aus Hannover vor, das die grünennahe Heinrich-Böll-Stiftung in Auftrag gegeben hatte.

Während sich die Bündnisgrünen also auf allen Ebenen bemühen, durch "realistische" Zeitvorgaben beim Atomausstieg nicht wieder in die Ecke der Öko-Fundamentalisten gestellt zu werden, verzichtet die SPD ganz auf zeitliche Festlegungen. Von elf Jahren Ausstiegszeit - dem pessimistischsten Szenario der Böll-Stiftung - werden die Grünen nach dem 27. September wohl noch träumen, denn "der Ausstieg", verriet SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder erst kürzlich dem Spiegel, "dauert so lange wie der Einstieg".

Michael Müller, umweltpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und Vertreter der Parteilinken, geht zwar davon aus, daß schon in den ersten vier Jahren elf AKWs abgeschaltet werden, doch Kanzleraspirant Schröder widersprach dieser Forderung umgehend. Müller glaubt auch, daß der gesamte Ausstieg binnen zehn Jahren zu machen sei - eine nach Tschernobyl ins Parteiprogramm genommene Position, die öffentlich mittlerweile nur noch die Parteilinke vertritt. Doch auch Müller will sich "jetzt nicht auf so eine Frist festlegen", wie er gegenüber Jungle World sagte. Vor allem nicht vor dem Wahlsieg. Danach hofft Müller auf außerparlamentarische Unterstützung für seine innerparteilich schwache Position: Es gehe auch darum, daß die gesellschaftlichen Gruppen zur Durchsetzung ihrer Forderung nach dem 27. September auf die Straße gingen.

Festlegen will sich auch der niedersächsische Umweltminister Wolfgang Jüttner nicht. Nur ein Ausstieg im Jahre 2028 sei für ihn "kein Erfolg". Drei Wochen vor der Bundestagswahl erläuterte Jüttner dem Spiegel sein offensicht-lich mit dem SPD-Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder abgestimmtes Strategiepapier "Organisation des Ausstiegs". Energiekonsensgespräche, schon früher ein Lieblingsprojekt Schröders, sollen demnach im Einklang mit der Industrie und den Bundesländern den Einstieg in den Ausstieg bringen.

Die Zielvorgaben in dem Papier scheinen entschiedener als alles, was bisher von Schröder zu dem Thema zu hören war: Neue AKW sollen nicht mehr genehmigt werden. Selbst für den Europäischen Druckwasserreaktor (EPR), der derzeit von Siemens und der französischen Framatome entwickelt wird, ist keine Ausnahme vorgesehen. Innerhalb von zwei Jahren sollen neue dezentrale Zwischenlager an den AKW-Standorten entstehen und Mitte 1999 ein Atomausstiegsgesetz vom Bundestag verabschiedet werden. Auch eine Grundgesetzänderung, die den Bau neuer Atomkraftwerke verbietet, strebt Jüttner an. Wie er die dafür notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundesrat und Bundestag zusammenbekommen will, verrät der niedersächsische Umweltminister allerdings nicht. Und das ganze Konzept steht unter dem Schröderschen Vorbehalt, es dürfe kein Schaden für die öffentlichen Kassen und die heimischen Unternehmen entstehen.

Bis zum Jahr 2001 sollen die Konsensgespräche abgeschlossen sein, so Jüttner. Die Energieversorgungsunternehmen aber signalisieren bisher, daß sie nicht gewillt sind, sich auf ein solches Verfahren der Konsensfindung einzulassen, es sei denn, die staatlichen Entschädigungen würden kräftig fließen. Wilfried Steuer, Präsident des deutschen Atomforums, droht vorsorglich schon mal "zweistellige Milliardenforderungen" an: "Die Unternehmen werden jedes juristische Mittel nutzen, um diese Ansprüche durchzusetzen." Als Entschädigungsgrundlage will Steuer nicht die Restbuchwerte der nach durchschnittlich 18 bis 20 Jahren abgeschriebenen AKW geltend machen, sondern die durch vorzeitige Abschaltung entgangenen Betriebsgewinne.

Bis zur Aufnahme von Koalitionsverhandlungen - in welcher Konstellation auch immer - kann man über die tatsächlichen Positionen einer zukünftigen Regierung und der Betreiber nur spekulieren. Die Anti-Atom-Bewegung kann getrost bis zu ihrer Herbstkonferenz Mitte Oktober warten, um sich dann mit den Plänen einer neuen Bundesregierung auseinander zu setzen. Doch egal ob Rot-Grün oder Große Koalition, eine Umsetzung ihrer Forderung nach sofortigem Ausstieg hat sie nicht zu erwarten.