Geballte Ladung Demokratie

Am 27. September ist Volksentscheid-Tag: Eine Hamburger Initiative fordert mehr direkte Mitbestimmung

"Damit wir Bürger mitbestimmen können" springt es Passanten von einem Plakat in der Hamburger Innenstadt an. Die Hanseaten dürfen am 27. September gleich in doppelter Hinsicht "mitbestimmen": Nicht nur die Wahl der Bonner Regierung, sondern auch die Abstimmung zum Volksentscheid steht auf dem Programm. Während man in Schleswig-Holstein parallel zur Bundestagswahl durch einen Volksentscheid über die Einführung der Rechtschreibreform abstimmen soll, geht es bei der Initiative des Vereins "Mehr Demokratie in Hamburg" nicht um eine konkrete Sachfrage. Zur Entscheidung stehen erleichterte Bedingungen bei der Durchführung von Volksbegehren.

Beeindruckt von dieser geballten Ladung Mitbestimmung hat der Bundesverband "Mehr Demokratie" den 27. September auch gleich euphorisch zum "Tag der Direkten Demokratie" erkoren. Vor den Wahllokalen in Berlin, Bremen, Baden-Württemberg und Bayern sollen Unterschriften für die Zulassung von Volksbegehren in den jeweiligen Ländern gesammelt werden.

Während auf Bundesebene das Grundgesetz solchen Instrumenten nur wenig Spielraum läßt, sind sie auf Länderebene mittlerweile stärker ausgebaut. Im Musterland Bayern hat man in den letzten Jahren zahlreiche Volksbegehren durchgeführt. Das bekannteste Beispiel ist die Abschaffung des bayrischen Senats im Frühling. Die zweite Kammer des Landesparlaments galt als "wirkungsloser Honoratiorenklub", dessen Funktion sich auf die Beratung der Staatsregierung beschränkte. Wohl kaum zufällig hat sich insbesondere die "wertkonservative" Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP) in Szene gesetzt: Von den 194 Befragungen, die seit der Inkraftsetzung des Gesetzes über kommunale Bürgerentscheide am 1. November 1995 durchgeführt wurden, waren die meisten etwa gegen "eine neue Musichall für den Dream King" oder "den Neubau eines Feuerwehrgerätehauses" gerichtet.

Hamburg möge nun folgen: Hier ist das Thema zum Dauerbrenner geworden. Mehr Demokratie e.V. fordert in seinem Gesetzentwurf Änderungen der Landesverfassung, damit die Durchführung von Volksbegehren - ähnlich wie in Bayern - erheblich erleichtert wird. Außerdem soll der Katalog um Bereiche wie Steuern und Bauleitpläne erweitert werden. Wichtige Entscheidungen etwa über Haushalts- oder Personalfragen bleiben aber weiterhin tabu.

Dennoch könnte die direkte Demokratie als Bestandteil der Hamburger Lokalpolitik etabliert werden. Die Öffentlichkeit zeigte sich jedoch zunächst eher gelangweilt. Eine ernsthafte Auseinandersetzung begann erst mit machtpolitischen Spielchen der rot-grünen Koalition. Während die Grün-Alternative Liste (GAL) den Entwurf der Initiative von Beginn an unterstützte, war die SPD den neuen Vorschlägen weniger wohlgesonnen.

Die Konsequenz: Man schlitterte in eine kleine Koalitionskrise. Über jeder Diskussion zum Volksentscheid schwebte die Angst, das Regierungsbündnis könne vor der Bundestagswahl auseinanderbrechen. Seit Ende August müssen sich die Koalitionäre allerdings keine Sorgen mehr machen. Die GAL hat sich noch rechtzeitig von "Mehr Demokratie" verabschiedet, um mit der SPD einen gemäßigten Kompromiß einzugehen. Nun stehen zwei Vorschläge zur Abstimmung: der von Mehr Demokratie und der Kompromiß der Bürgerschaft.

Dieser Ablauf bestätigt zumindest die Einschätzung der Initiatoren: Direktdemokratische Elemente könnten das politische System als "Vehikel, mit dem neue Ideen in die Gesellschaft getragen werden", bereichern. Ein Thema wird aufgegriffen, diskutiert, verhandelt und kommt so auf die politische Tagesordnung. Am Ende steht ein Kompromiß.

Dennoch bleibt das Volksbegehren als progressive Ergänzung des parlamentarisch-repräsentativen Systems fragwürdig. Kritische Stimmen schätzen den Haupteffekt als "eher konservativ" ein, da - wie in der Schweiz - ständig Kompromisse ausgehandelt werden, um einem drohenden Volksentscheid zu entgehen. Auf diese Weise werden zwar verschiedene Interessengruppen in den politischen Prozeß integriert, zu einschneidenden Veränderungen kommt es jedoch nicht. Viel wichtiger als der Entscheid selber sei "dessen institutionelle Eingrenzung und Instrumentalisierbarkeit", die das Ziel habe, den Wähler "unter Kontrolle" zu halten, meint der Politikwissenschaftler Johannes Agnoli.

Auch in Kalifornien hat man einschlägige Erfahrungen mit direktdemokratischen Verfahren gemacht. Dort sind die Begehren für Manipulationen aus unterschiedlichen Richtungen anfällig und geraten zum populistischen Instrument. Schließlich sind die Initiatoren von organisationsstarken und finanzkräftigen Interessengruppen abhängig, da für die Durchführung eines Volksbegehrens viel Geld benötigt wird.

Dem Hamburger Verein ist es relativ gut gelungen, solchen Abhängigkeiten zunächst aus dem Weg zu gehen. Die Liste der "Bündnispartner" von Mehr Demokratie umfaßt ein Spektrum, in dem nicht nur die Zahlungskräftigen den Ton angeben. Neben der Industrie- und Handelskammer und den Jusos finden sich dort auch der Asta der Uni Hamburg und Vertreter verschiedener Bürgerinitiativen. "Wir sind Idealisten", lautet die Selbsteinschätzung eines Vereinssprechers. Der Glaube an die heilende Wirkung der Direktdemokratie bestimme das Denken der Aktivisten. Weitere politische Gemeinsamkeiten gebe es nicht.

Ob es in Hamburg nach der "Entscheidung über den Entscheid" zu weiteren Volksbegehren kommen wird, ist eher unwahrscheinlich, nachdem sich die Bürgerschaft auf den gemäßigten Kompromiß geeinigt hat. Da die Wähler nun zwischen zwei Vorschlägen entscheiden dürfen, könnte das von Mehr Demokratie stets befürchtete "Stimmensplitting" eintreten: Keiner der beiden Gesetzentwürfe kann die notwendige Anzahl der Stimmen auf sich vereinen, alles bleibt beim alten.

Aber auch dann dürfte das Thema kaum von der Bildfläche verschwinden: Der Bundesverband Mehr Demokratie plant eine Kampagne zur Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene im Jahr 2003.