Dellwos Tabu-Bruch

Ein Jahr nach dem Medienhype Deutscher Herbst '77 bleibt der Hintergrund der Stammheimer Todesnacht so ungeklärt wie zuvor

Die Show ist vorbei: Die Kameras sind längst wieder eingepackt, die Bücher wieder aus den Verkaufsregalen verschwunden, und auch in den einschlägigen Zeitschriften sucht man vergeblich. Ein Jahr, nachdem der Deutsche Herbst 1977 vorübergehend zum Medienhype avanciert war, ist auch die Debatte über eine der umstrittensten Fragen der deutschen Linken wieder von der Tagesordnung verschwunden: Wurden die RAF-Gefangenen Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Andreas Baader am 18. Oktober 1977 im Stammheimer Hochsicherheitstrakt ermordet, oder haben sie sich selbst getötet?

Auch ein Ende Juni in der taz veröffentlichtes Interview mit dem langjährigen RAF-Gefangenen Karl-Heinz Dellwo löste kaum noch Resonanz aus. Dabei wollte die Redaktion dem Gespräch eine besondere Bedeutung geben: "Karl-Heinz Dellwo spricht nun aus, was bisher hinter vorgehaltener Hand gesagt wurde. Auch die RAF-Gefangenen waren von der Mordthese nicht überzeugt".

Was Dellwo mitteilte, war allerdings weniger spektakulär als angekündigt. Bislang geheimgehaltenes Insiderwissen oder neue Fakten konnte er nicht beisteuern, sieht man von der vagen Information ab, während eines RAF-Treffens Ende 1977 seien Gruppenmitglieder, die von den "Stammheimer Morden" sprachen, mit dem kryptischen Satz zurechtgewiesen worden, die Gefangenen seien bis zum Schluß Subjekt gewesen. Doch damals saß Dellwo bereits im Gefängnis. Er wurde nach der Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm 1975 verhaftet.

Dellwo, der auch im Namen seiner ehemaligen Celler Mitgefangenen Lutz Taufer und Knut Folkerts sprach, begründete seinen Zweifel vor allem mit dem Risiko, dem der deutsche Staat international ausgesetzt gewesen sei: "Die Ermordung der Gefangenen mußte im Ausland alle Erinnerungen an das Dritte Reich hochkommen lassen. Aber das 'Modell Deutschland' der Sozialdemokratie hatte die Funktion, Deutschland auch international gegen den Nationalsozialismus abzugrenzen."

Auch das Verhalten seiner eigenen Genossen und Genossinnen im Untergrund hat zu Dellwos Skepsis beigetragen. "Für uns Gefangene war klar, wenn es Mord war, wird man einen Hinweis finden. Und notfalls muß man mit militärischen Mitteln die Herausgabe von Abhörprotokollen oder sonstigem Material aus Stammheim erzwingen". Dellwo ist davon überzeugt, daß die Stammheimer Gefangenen über Waffen verfügt haben. Damit widerspricht er der einzigen Überlebenden der Stammheimer Todesnacht, Irmgard Möller. Sie bekräftigte noch im letzten Jahr in einem Interview mit dem Jungle World-Autor Oliver Tolmein: "Wir hatten keine Waffen."

Für die wenigen, die noch in der Gefangenen-Solidaritätsarbeit aktiv sind, kam das Interview nicht überraschend. Schließlich hatte Dellwo schon im Frühsommer 1997 auf einer Veranstaltung in Italien seine Zweifel an der Mordthese formuliert. Trotzdem hielt man sich mit öffentlichen Stellungnahmen lange zurück. Mittlerweile regt sich allerdings Widerspruch in der Szene. So hält es die langjährige RAF-Gefangene Brigitte Asdonk zwar für falsch, sich an der Person Dellwo abzuarbeiten, dennoch will sie seinen Schlußfolgerungen nicht folgen. Ebenso einige Berliner "FreundInnen der politischen Gefangenen", die im Gespräch mit der Jungle World Dellwo vorwarfen, sich an der Abwicklung linker Geschichte zu beteiligen.

Im September veröffentlichte das von der Gruppe mitherausgegebene Angehörigeninfo einen Brief von Rolf Heißler. Der Ex-RAFler, der selbst bald 20 Jahre im Gefängnis sitzt, attestiert seinem ehemaligen Mitkämpfer gar einen durch die jahrelange Isolationshaft bedingten Realitätsverlust. "Er sagt nicht, wie es ihm in den vielen Knastjahren ergangen ist, und darf schon gar nicht an sich heranlassen, daß seine Zweifel und heutigen Positionen in engem Zusammenhang damit stehen." Dellwo wolle heute nicht mehr wissen, daß der während der Schleyer-Entführung eingerichtete Krisenstab auch die Tötung der Gefangenen erwogen worden habe und daß während des Deutschen Herbstes in den Medien offen über die Todesstrafe für Terroristen debattiert worden sei.

Dellwo gab sich gegenüber Jungle World von Heißlers Brief wenig beeindruckt: "Diese Stimme aus der Vergangenheit berührt mich nicht mehr." Verärgert ist Dellwo über Irmgard Möller: Vor seinen Interview habe er ihr brieflich eine gemeinsame Aufarbeitung der Geschichte angeboten, aber keine Antwort erhalten. Von Genossen und Genossinnen im In- und Ausland habe er dagegen viel Zuspruch erhalten. Manche hätten es regelrecht befreiend empfunden, daß einer an die alten Tabus rühre.

Auch Ilse Schwipper, einst Mitglied der Bewegung 2. Juni, unterstützt Dellwo und nennt die Mordthese "Dogmatismus und Tabu, das jeden Zweifel ausschließt". Eine "ChristInneninitiative", die sich um die RAF-Gefangenen kümmert, vermißt hingegen in Dellwos Brief Argumente für seine Selbstmord-These. Statt dessen blende er die kritischen Ergebnisse einer internationalen Untersuchungskommission und von Anwälten wie Pieter Bakker Schut aus und bleibe eine Erklärung darüber schuldig, wie die Waffen in das Hochsicherheitsgefängnis geschmuggelt und trotz mehrmaliger Zellenverlegungen bis zur Todesnacht von den Gefangenen versteckt gehalten werden konnten.

Auch im Ausland herrschte damals gerade deshalb Skepsis: So forderte die sozialdemokratische griechische Pasok von der BRD-Regierung Beweise, "daß die Mitglieder der Organisation Baader-Meinhof nicht von den Organen ihres Staates exekutiert worden sind". Und die linksliberale Pariser Le Monde stellte die Frage: "Und was ist mit Baader? Wie konnte er sich mit einem Genickschuß umbringen?" Auf Initiative von italienischen Linken unterschrieben über tausend Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben, unter ihnen Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, einen Appell: "Wir haben es mit einem Mord an eingesperrten und wehrlosen Männern und Frauen zu tun - oder, was für einen Staat noch schlimmer wäre - mit einer bewußten Anstiftung zum Selbstmord".

Diese Diktion, nach der für jeden hinter Knastmauern gestorbenen Gefangenen der Staat zur Verantwortung zu ziehen ist, fand in der BRD kaum Zuspruch. Lediglich der Hamburger Arzt und Historiker Karl-Heinz Roth äußerte sich Anfang der achtziger Jahre in diesem Sinne. Roth stellte selbst die Mordthese in Frage und kritisierte zudem, daß auch von seiten der Sympathisanten-Szene kein Interesse daran bestanden habe, die Wahrheit herauszufinden.

Tatsächlich warfen die ungeklärten Todesumstände damals Fragen auf, die für die Linke existentiell waren: Selbstmorde hätten zum Beweis dafür werden können, daß bewaffnete Politik endgültig in eine Sackgasse geraten war. Die Tatsache, daß ein Staat zum Mord an seinen Gefangenen fähig ist, hätte wiederum radikale Konsequenzen der Linken erfordert. Die aber hatte sich freilich in ihrer Mehrheit schnell für die Selbstmord-Variante entschieden. Daniel Cohn-Bendit sprach Ende der achtziger Jahre davon, daß der Anpassungsprozeß in seiner Partei nicht so reibungslos verlaufen wäre, wenn sich die Mordthese hätte verifizieren lassen. Zum zehnten Jahrestag der Todesnacht wies der grüne Bundesvorstand noch auf die Widersprüche in der staatlichen Selbstmordversion hin. Heute ist davon freilich nichts mehr zu hören. Doch auch die RAF-Reste schwiegen in ihrer Auflösungserklärung vom Frühjahr zu dieser Frage.

Nach dem Regierungswechsel in Bonn will eine Gruppe ehemaliger Gefangener, die kritisch zu den Äußerungen Dellwos steht, die Offenlegung sämtlicher Geheimarchive im Zusammenhang mit der westdeutschen Terroristen-Bekämpfung fordern. Dabei könnten sie sogar von unerwarteter Seite Unterstützung bekommen. Auch der ehemalige Bundesinnenminister Gerhard Baum hat sich kürzlich für die Veröffentlichung der illegal angefertigen Abhörprotokolle von der Stammheimer Todesnacht ausgesprochen.