Irgendwann irgendwo mal anders

Der Neuropsychologe David Weeks traf sich zehn Jahre lang mit Exzentrikern und studierte das Vergnügen, anders zu sein

Es gab im 17. Jahrhundert im nordamerikanischen Massachusetts eine berüchtigte Phase, in der Hysterie als Regelverhalten jeden, der sich dem Hexenwahn nicht hingeben wollte, zum Nonkonformisten machte.

300 Jahre später wäre er immerhin noch ein Fall für den englischen Neuropsychologen David Weeks, der gemeinsam mit dem Journalisten Jamie James eine Studie über Exzentriker vorgelegt hat. Das Hauptmerkmal von Exzentrik besteht für Weeks darin, daß irgend jemand irgendwann irgendwo die herrschenden Regeln und Normen unterläuft. Dieser Logik folgend, wird, wenn alle durchdrehen, der Normalo zum Ausnahmefall.

Gegen die Disponierungen durch soziale Strukturen setzen Exzentriker ein Ausrufezeichen hinter Individualität; sie sind "starke Individuen mit ganz eigenen, sonderbaren Neigungen, die sie sich nicht scheuen auszudrücken", so Weeks. Mit ihrer extrem individualisierten Strategie zielen Exzentriker darauf ab, sich der Macht, Kontrolle und Langeweile zu entziehen - und dies unabhängig davon, wie feindselig oder indifferent das soziale Umfeld reagiert.

Nach Darstellung Weeks' kommt ein "klassischer, hauptamtlicher Exzentriker" auf 10 000 Konformisten. Es ist eine Person von großem Unterhaltungswert, die zudem fast immer ein "funktionierendes Mitglied der Gesellschaft" ist. Dies zu belegen, führt die Studie zahlreiche Beispiele aus allen Epochen und gesellschaftlichen Milieus an; da ist der Arzt, der sich für seine Patienten als Clown verkleidet, weil er Lachen für die beste Medizin hält; der englische Professor, der in bestem Latein und Griechisch parliert, während sein Englisch verheerend ist; der Experimentator, der dem Alphabet nach alle Drogen durchprobieren wollte, aber nur bis C kam.

Da ihm der Standardapparat der Psychologie, "der schwammigsten Wissenschaft", wie Weeks meint, "für die Evaluierung der exzentrischen Persönlichkeit fast nutzlos" war, und auch die obligaten Kapitel über Kindheit und Sexualität kaum Aufschluß gaben, hat sich Weeks dem "Reiz der Vermutung, dem Staunen über die Spekulationen" hingegeben. Mangels eines objektiven Maßstabs für Exzentrik, deren Bemessung sowohl subjektiver Willkür wie auch sozialen und kulturellen Faktoren unterliegt, hütet sich die Studie, voreilige Schlüsse zu ziehen.

Über Annoncen und Mund-zu- Mund-Propaganda wurden knapp tausend Leute ausfindig gemacht, die Weeks exzentrisch genug erschienen, um sich über einen Zeitraum von zehn Jahren mit ihnen zu treffen, sie zu untersuchen und erzählen zu lassen. Dabei haben sich fünf für Exzentriker wesentliche Eigenschaften herauskristallisiert: Der vollwertige Exzentriker sei vor allem "unangepaßt", "kreativ", "stark durch Neugier motiviert" und "idealistisch". Mit dem "Anspruch, die Welt zu verbessern und die Menschen in ihr glücklicher zu machen", betreibt er "beglückt ein oder mehrere Steckenpferde". Dieses Profil erinnert stark an die Stellenausschreibung einer Werbeagentur. Ist bei Toyota "nichts unmöglich", kommt laut Weeks das Wort "unmöglich" im Wortschatz der Exzentriker erst gar nicht vor.

Wohl deshalb stürzen sie sich reichlich unbeschwert in so wagemutige Unternehmungen wie die Erforschung der Syntax der Katzensprache oder entwickeln den Ehrgeiz, keinesfalls irgend etwas wegzuschmeißen, was, wie im Fall einer Engländerin, im Kauf eines Opernhauses münden kann, in dem dann bergeweise Plunder vergammelt.

Keine gesonderte Beachtung finden in der Darstellung Weeks die materiellen Grundlagen exzentrischer Lebensstile, die Mittel, die es ihnen erlauben, sich ganz darauf zu konzentrieren, ihre Grillen auszuleben und sich einen Teufel um gesellschaftliche Konventionen zu scheren. Unabdingbar aber ist der Mut, eigene Vorstellungen umzusetzen. Dies zeigt sich z.B. daran, daß im letzten Jahrhundert Exzentrik untrennbar mit Feminismus verknüpft wurde, da es viele wohlhabende Ehefrauen gewesen seien, die sich aus der ihnen zugedachten Rolle lösten - was dann als ziemlich exzentrisch wahrgenommen wurde. Charakteristisch für eine exzentrische Haltung ist die Künstlerinnenbiographie der Sopranistin Florence Foster Jenkins, die die Karten für ihre raren Konzerte - selten sang sie mehr als einmal pro Jahr - erst nach einem persönlichen Gespräch mit dem Käufer freigab. "Einige Leute sagen", heißt es in ihrer Grabinschrift, "daß ich nicht singen kann, niemand aber kann sagen, daß ich nicht gesungen habe."

Für die Exzentrikerinnen der Gegenwart gilt, daß sie tendenziell radikaler, experimentierfreudiger, neugieriger und verschlossener sind als die Männer. Natürlich widmet sich das Buch auch der angrenzenden Sparte "Genie und Wahnsinn", wofür Namen wie William Blake und Emily Dickinson, Salvador Dali, George Sand, Albert Einstein und Isaac Newton stehen.

Religiösen Sonderlingen, die sich statt um Alchimie heute eher um Ufos und untergegangene Kontinente kümmern, will Weeks allerdings nicht das Attribut "exzentrisch" zugestehen, sondern bezeichnet sie als "Lügner" und "Scharlatane". Wahre Exzentriker, behauptet Weeks, täuschten nie etwas vor. Bleibt die Frage, was für die Annahme spricht, daß ein Erich von Däniken den Glauben an seinen mystischen Mist nur vorspielt?

Möglicherweise fußen diese Zuordnungen aber auch auf der zutiefst exzentrischen Haltung des Autors. Denn exzentrische Menschen gehen eher intuitiv als analytisch vor, sie interessiert weniger, "was ist, sondern was sein sollte". So glaubte eine englische Erfinderin, nachdem ihr gerade wieder einmal ihr neuestes Perpetuum mobile um die Ohren geflogen war, daß das nächste ganz sicher funktionieren würde. Mag es noch angehen, diesen gewiß idealistischen Ansatz als exzentrisch zu werten, so stellt sich die Frage, wie es sich dann mit jenem, von Weeks ebenfalls als exzentrisch eingestuften amerikanischen Komponisten verhält, der viel Zeit und Geld darauf verwendete, einen Verfassungszusatz durchzubringen, der das jährliche Einkommen auf maximal 20 000 Dollar begrenzt. Die Schlußfolgerung wäre, daß alle von den herrschenden Ideologien noch nicht komplett umgekrempelten Abweichler dem exklusiven Kreis exzentrischer Personen zugeschlagen werden müßten.

Deutlich allerdings grenzt Weeks das Exzentrische vom Pathologischen ab. Wurden die Begriffe "Exzentrik" und "Wahnsinn" früher fast synonym zur Beschreibung von seltsamem und unberechenbarem Verhalten angewandt, so ist mittlerweile die Diagnose "Exzentrität" aus den Akten nahezu verschwunden. Dies bedeutet allerdings nicht, daß die Psychologie normabweichendes Verhalten toleriert. Psychologen neigen jedoch, so Weeks, immer stärker dazu, in einer "esoterischen Fachsprache zu kommunizieren, die gemeinsame Perspektiven und Erwartungen reflektiert". Dies ist sowohl ein Hinweis darauf, wie so manche Modekrankheit entsteht, als auch eine Kritik daran, daß die Psychologie jedem aufälligen Verhaltensmerkmal einen behandlungswürdigen resp. krankenkassentauglichen Namen geben kann.

So werden Exzentriker oft mit dem Befund der Schizophrenie belegt. Eine vollständige Fehldiagnose, wie die Studie behauptet, da Exzentriker weder Zwangshandlungen begingen noch Zwangsvorstellungen nachhingen, sondern sich ihres Tuns so viel oder so wenig bewußt seien wie alle anderen Menschen auch. Ganz im Gegenteil zerstörten die "spontanen Problemlösungen" der Exzentriker gerade den "Nährboden für Neurosen".

Eine schöne Illustration dafür bietet ein Fall aus der historischen Abteilung: Als der Geschäftsmann Joshua Abraham Norton zuerst vom Erfolg und dann von seiner Frau verlassen wurde, verfiel er nicht etwa in Depressionen, sondern "annektierte" 1857 kurzerhand Kalifornien und zwei Jahre später die Vereinigten Staaten. Kaiser Norton patrouillierte täglich in den Straßen von San Francisco und war bei jeder Sitzung des kalifornischen Senats anwesend, wo für ihn eigens ein Sitzplatz reserviert war. Als der "Kaiser der USA und Protektor von Mexiko" 1880 nach 21jähriger Regentschaft starb, kamen über 30 000 Menschen zu seiner Beerdigung.

Kaiser Norton lebte zur rechten Zeit am rechten Ort; wurde er seinerzeit in San Francisco in seiner Hofnarrenrolle als harmlose Bereicherung empfunden, wäre ihm einige Zeit zuvor in Europa noch eine inquisitorische Standardbehandlung sicher gewesen.

In den Neunzigern dieses Jahrhunderts steckt man Menschen wie Kaiser Norton bestenfalls in eine therapeutische Wohngruppe, schlimmstenfalls in die Psychiatrie: "Heutzutage würde man ihnen eine ganze Reihe genau definierter psychischer Krankheiten anhängen und sie energisch mit diversen Tests und ärztlichen Behandlungen traktieren, Diagnosen stellen, sie ruhigstellen, stabilisieren und zwingen, normal zu sein, ob sie es wollen oder nicht. Nichts deutet darauf hin, daß diese Männer unglücklich waren oder ihr Leben in irgendeiner Weise besser gewesen wäre, hätten sie ihre Absonderlichkeiten aufgegeben. Wäre Kaiser Norton geheilt worden, hätte ihn womöglich das übliche und langweilige Dasein eines Angestellten oder Vertreters erwartet - was für ein Abstieg für einen Mann, der ehemals ein Zepter getragen hatte."

Exzentrik hat, und darauf hinzuweisen zeichnet die Studie aus, nichts mit psychischen Krankheiten zu tun, denn "Krankheit impliziert Leiden und das Bedürfnis nach Heilung", so Weeks, was auf die meisten Exzentriker sicher nicht zutreffe. Ganz im Gegenteil hätten Exzentriker einen "rebellischen Spaß" an ihren Normabweichungen, seien insgesamt nicht nur glücklicher, sondern auch gesünder als Konformisten. Weeks resümiert: "Originelles Denken scheint uns besser zu bekommen als stumpfsinnige Konformität. Immer wieder betonen sie (die Exzentriker; G.U.), wie wesentlich Humor für ihr Wohlbefinden und ihre Selbstachtung in einer zunehmend trostlosen und konformistischen Welt ist."

Freilich, eine konformistische Welt, in der es auf die rechte Mischung ankommt, denn absolute Normalität wäre im Zeitalter des Distinktionsgewinns schon wieder fast so exzentrisch wie irgendeine Mäßigung damals in Massachusetts.

David Weeks/Jamie James: Exzentriker. Über das Vergnügen, anders zu sein. Rowohlt, Reinbek 1998, S. 286, DM 16,90