Zeit totschlagen

"Sensation" in Berlin - YBA ist ein Markenprodukt der Popkultur. Von

Die Kunstsammlung von Charles Saatchi ist ein Unteraufmacher für Bild: "Rekord: 300 000 sahen Londonder Sudel-Ausstellung! 250 000 für Berlin erwartet!" Der Text eine Grusel-Revue: "Die jungen Londoner Künstler machen vor nichts halt. Damien Hirst zersägt Kühe und Schweine. Marc Quinn gießt seinen Kopf in Blut. Da sind das Bild einer Kindsmörderin, Kindersexpuppen, eine Madonna mit Elefantenmist (...)." Im greinenden Tonfall der rhetorische Schluß: "Darf man das? Ist das noch Kunst??"

Die Sache mit dem Schock ist ja Schnee von gestern. Die Unterscheidung von Hoch- und Trashkultur ist nicht erst durch die Postmoderne aufgehoben worden. Von den Impressionisten, die sich vom akademischen Kunstbegriff, bis zu Andy Warhol, der sich vom Kunstbegriff überhaupt emanzipierte, sorgten alle modernen Klassiker zunächst für öffentliche Provokation.

Nach dem Besuch der Sammlung im Berliner Museum für Gegenwartskunst bleibt ein Unbehagen zurück - weil "Sensation" so langweilig ist. Die meisten der rund 110 Arbeiten sind auf eine irritierende Weise nichtssagend. Sie erschüttern nicht, egal, welches Tabu sie brechen. Sie denunzieren auch nichts mehr. Steril und konventionell im Sinne der herrschenden Popkultur, macht sie nur der institutionelle Rahmen des Museums als Kunst erkennbar. Vielleicht freuen sich Kuratoren und Kritiker deshalb so sehr über sie, bedeutet dies doch eine unumschränkte Wiedereinsetzung ihrer Interpretationsmacht, auf die die freie Kunstszene der siebziger und achtziger Jahre gepfifffen hätte.

Was Saatchi betrifft, so äußert er seine Kunstpolitik öffentlich nicht anders als durch sein Kaufverhalten. Man darf also selber spekulieren, was ihn Anfang der Neunziger an Hirst und den anderen Kunststudenten reizte, mit denen er die Young British Art (YBA) begründetete. Offensichtlich entsprachen sie dem Jugendkult und teilten die als typisch britisch geltende Vorliebe fürs Groteske, die der Werbeunternehmer selbst kreativ unter Beweis gestellt hat (z.B. mit dem Poster eines schwangeren Mannes für eine Aufklärungskampagne).

YBA eignete sich als Markenprodukt der heimischen und internationalen Popkultur, wofür sie auch die nötige Marktorientierung mitbrachte. "Wenn sie auch nicht auf Massenwirkung angelegt war, so hatten die Künstler bei ihrer Produktion doch zweifellos ein aufmerksames, empfängliches und kauflustiges Publikum im Sinn", beschreibt die Kritikerin Gilda Williams die Londoner Szene.

Nun galten diese Kriterien auch für Jeff Koons, Julian Schnabel und andere Künstler, die Saatchi zuvor gesammelt hatte. Es mußte also noch etwas anderes dazugekommen sein, daß ihn und seine neuen Schützlinge aufeinander reagieren ließ. Vielleicht war es, daß Saatchi in der Rolle des Image-Produzenten Malcolm McLaren auftreten konnte, der als Manager der Sex Pistols Ende der siebziger Jahre den Punk kreiert und erfolgreich vermarktet hatte. Mit den Achtzigern kam und ging die Zeit der glamourösen Malerfürsten und der einsamen Superstars. Anfang der Neunziger war der orchestrierte Auftritt von Boy-Groups und die Rückkehr des Punkrock angesagt. Saatchi und YBA sahen sich in der einmaligen Lage, diesen virtuosen Trend für die Bildende Kunst zu setzen.

Bestes Sinnbild dafür ist Gavin Turks "Pop" (1993), ein Selbstbild als Sid Vicious, der mit dem Mord an seiner Freundin Nancy Schlagzeilen machte. Die lebensgroße Wachsfigur zeigt den Sex Pistols-Bassisten mit gezückter Pistole - was könnte tautologischer sein? Die Arbeit weist durch nichts über ihre Pose hinaus, über ihre im Parrafin künstlich geronnene Ideologie eines "Neo". Darum hat sie etwas Museales

im schlechtesten Sinn, was durch die Vitrine um die Figur noch betont wird. Gleiches gilt für Hirsts zersägte Tiere. Eine dreifache Trennschicht - das Vitrinenglas, Formaldehyd und eine weitere Glasplatte vor den Innereien - sorgt für klinisch saubere Stilleben. Die sind auf eine Weise stumpf, daß sie sich auch zum memento mori nicht eignen, sondern bloß als Symbole einer totalen Verfügbarkeit, die in Hirsts falscher anatomischer Anordnung der quer zerschnittenen Kuh überdeutlich wird. Für die pornografische Verfügbarkeit der Arbeiten stehen auch all die gewaltsam aufgerissenen Körperöffnungen in dieser Ausstellung.

Die Kriegsgewalt, die Goyas "Desastres de la Guerra" mit knappen Strichen evozieren, gießen die Brüder Chapman in monumentale Fiberglasfiguren aus. Tracey Emin stickt die Vorstellung, das intime Tagebuch einer Frau zu lesen, in große bunte Buchstaben ("Alle meine Bettgenossen 1963-1995", 1995). Jedesmal ist es ein Versuch, verbotene Phantasien materiell konkret zu machen. Das Ergebnis sind Hochglanzkopien des schlüpfrig-kitschigen Warensortiments eines Andenkenladens und der Regenbogenmedien, das in Wahrheit sogar doppelt bieder und redundant ist. Kein Boulevardblatt würde sich "Sensation" nennen. Selbst Sun und Bild rechnen noch ein bißchen auf das Assoziationsvermögen ihres Publikums.

Bedrückend ist in diesem Zusammenhang Richard Billinghams groß aufgemachtes Fotoalbum seiner sozial gescheiterten Familie (1993-95). Ihr Elend wurde von Kritikern mit dem Euphemismus "subproletarisch" bemäntelt, als dürfe die obszöne Realität nicht laut genannt werden. So bleibt sie schließlich erhalten. Der Blick des Fotografen ist selbst nicht voyeuristisch. Er wollte die Bilder gar nicht veröffentlichen - davon überzeugten ihn die Freudentränen eines Bildredakteurs des Sunday Telegraph Magazine. Billinghams alkoholkranker Vater wollte jedoch ganz offensichtlich selbst zum ursprünglichen Zweck nicht fotografiert werden. Fast immer schließt er die Augen oder wendet sich ab. Er muß gespürt haben, daß die Kamera für den Sohn ein Mittel war, Distanz zu gewinnen. Dies gelingt am Ende mit einer Veröffentlichung, die den Vater zum dreifach stummen Verlierer gegen die Aufdringlichkeit des Sohnes, der Mutter und der Gesellschaft macht.

Rachel Whitereads Skulputuren, die unsichtbare Lufträume ausgießen, haben ihre vermutlich ungewollte Pointe darin, daß sie die erdrückende Tendenz der YBA auf den Punkt bringen, die Phantasie zu betonieren (Beton = engl. concrete). Eine Sonderstellung nimmt schließlich die für diesjährigen Turnerpreis der Tate-Gallery vorgesehene Sam Taylor-Wood mit "Zeit totschlagen" ein. Die Videoarbeit denkt als einzige über Phantasie und Fehlkommunikation in der Mediengesellschaft nach und spricht das heimliche Generalthema der Ausstellung direkt an.

"Zeit totschlagen" führt uns zurück zum Thema Langeweile, das seit der Punk-Ära für die britische Popkultur so zentral ist. Die Haßliebe der Sex Pistols zum öden Reihenhausdasein wurde vom gepflegten Ennui der Pet Shop Boys recycelt, für die Taylor-Wood die Konzerte ausstattet.

In Hits wie "Left To My Own Devices" formulierten sie Anfang der neunziger Jahre die Kunstgriffe der YBA vor: die Kombination eines eingängigen melodischen Themas mit Discobeat; die Koketterie der Texte mit einem proletarischen Hintergrund, die ebenso beliebig bleibt wie die angedeutete Kritik an Medien und öffentlicher Gewalt; zuletzt das sorgfältig aufgebaute coole Image, das jede Note bestimmt.

YBA ist nach diesem Strickmuster eine gute Gruppe. Sie arbeitet fleißig und wird sicherlich noch manchen Hit auf den Markt werfen, dessen Test sie dank Saatchi bestanden hat.

"Sensation - Young British Artists From the Saatchi Collection". Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart, Berlin, Invalidenstr. 50/51. Bis 17. Januar 1999