Furchtbar gut gemeint

30 Jahre Ideologieproduktion in der Solidaritätsbewegung.

Die Linke behauptet spätestens seit 1989 von sich, sie habe sich entideologisiert. Im allgemeinen meint sie damit, dem dogmatischen Marxismus-Leninismus abgeschworen zu haben. Das mag mehrheitlich stimmen, doch produziert die Linke auch heute fleißig Ideologeme, auch wenn es teilweise andere sind als früher und sie weniger unsympathisch erscheinen mögen als die der bürgerlichen Öffentlichkeit.

In vorderster Front an der linken Ideologie- und Mythenbildung beteiligt war und ist die internationalistische Solidaritätsbewegung mit der sogenannten Dritten Welt. 30 Jahre nach dem symbolträchtigen Jahr 1968, das mit der Agitation gegen den Vietnam-Krieg auch den Auftakt für die "Dritte-Welt"-Solidaritätsbewegung bildete, ist es jedoch höchste Zeit für verschärfte (Selbst-)Kritik. Die Fallstricke internationalistischer Argumentationsmuster lassen sich idealtypisch am Beispiel der Bewegung gegen das Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI) aufzeigen. Die meisten der im folgenden aufgeführten Kritikpunkte treffen allerdings in ähnlicher Form auch auf die früheren Kampagnen der internationalistischen Bewegung, etwa gegen IWF und Weltbank zu.

I. Personalisierung sozialer Verhältnisse

Statt den globalen Kapitalismus als komplexes soziales Vergesellschaftungsprinzip zu begreifen, das mit einfachen Dichotomien wie unten versus oben, Ausbeuter versus Ausgebeutete, Weiß gegen Schwarz, Frau gegen Mann, Nord gegen Süd usw. nicht ausreichend erklärbar ist, werden seitens der Solidaritäts-Bewegung die vermeintlich schuldigen Akteure personalisiert und dämonisiert. In harmloseren Fällen ist stark vereinfachend von "den Herrschenden" die Rede, als ob diese als Klasse oder als abgrenzbare soziale Gruppe so einfach und eindeutig identifizierbar seien.

Problematisch wird es spätestens dann, wenn einzelne Individuen herausgegriffen werden und persönlich für die Verhältnisse verantwortlich gemacht werden. Beispiele aus jüngerer Zeit sind der Microsoft-Inhaber Bill Gates, George Soros (Finanzspekulant jüdischer Herkunft, von dessen Entscheidungen angeblich ganze Volkswirtschaften abhängig sind), der Chef der Welthandelsorganisation WTO, Renato Ruggiero, und die üblichen Verdächtigen wie der jeweilige US-Präsident oder der Weltbankchef.

Natürlich tragen diese Personen besondere Verantwortung für den Zustand der Verhältnisse. Die Soli-Bewegung reduziert aber mit ihren Darstellungsformen Herrschaftskritik auf die Denunziation einzelner, während gesellschaftliche Verhältnisse im Dunkeln bleiben - etwa die Tatsache, daß die Menschen heute mehrheitlich nicht gegen ihren Willen "beherrscht" werden, sondern oft sogar nach autoritärer Politik oder entfesselter Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verlangen.

Doch in ihrem manichäischen, unzulässig simplifizierenden Weltbild neigt die Soli-Bewegung nicht nur bei der Darstellung des "Bösen" zu Personifizierung oder zur Schürung von Stereotypen wie z.B. Antiamerikanismus, sondern auch zur Idealisierung der "Guten". Prominente Personen der Linken, wie Rosa Luxemburg, Che Guevara oder Subcomandante Marcos, werden zu Pop-Ikonen, deren Verehrung sich essentiell nur noch wenig von der einer Lady Diana unterscheidet. Der Kult etwa um den 30jährigen Todestag von "Che" durch die Soli-Bewegung brachte inhaltlich kaum Substantielles, sondern ließ Revolutionsromantik und -ästhetik in einer Form wiederaufleben, die man seit dem Niedergang der Sandinisten überwunden glaubte.

Unvereinbar mit dem Denken in gesellschaftlichen Kategorien ist in den meisten Fällen auch die bis heute verwendete Bildsprache. Die zur Anklage des Nord-Süd-Konfliktes verwendeten Stereotypen (Nord = weißer, dicker Mann, Süd = unterernährter Schwarzer) schreiben die alten kolonialistischen Denkmuster über die "anderen" in nur wenig variierter Form fort - auch wenn sie in ironischer Absicht verwendet werden und furchtbar gut gemeint sind.

II. Verschwörungstheoretische Argumentation

Eng mit der Personalisierung zusammenhängend, suggeriert die Soli-Bewegung, die "Herrschenden", "die Politiker" oder "die Konzerne" seien eine homogene Interessengruppe, die zielgerichtet und klandestin die Unterdrückung der restlichen Menschheit plant. So wird z.B. in nahezu allen ihrer Veröffentlichungen betont, die MAI-Verhandlungen hätten bis 1997 "im Geheimen" bei der OECD stattgefunden. De facto fanden die Verhandlungen zunächst schlichtweg in einem derart unbedeutenden Unterausschuß der OECD statt, daß sich kaum jemand dafür interessierte - weder die Öffentlichkeit noch irgendwelche Regierungen.

III. Dichotomie zwischen "schaffendem" und "raffendem" Kapital

Die moralische Empörung über das, was die Nazis das "raffende Kapital" nannten, lebt nicht nur in Teilen der bürgerlichen Öffentlichkeit weiter. Anläßlich der Asienkrise führt auch die Soli-Bewegung die Krisenerscheinungen der Finanzmärkte und Nationalökonomien vor allem auf spekulative Finanztransaktionen und den "Casino-Kapitalismus" zurück. Die besonders verabscheuenswürdigen spekulativen Finanztransfers werden von ihr argumentativ konterkariert mit den Direktinvestitionen in sogenannten produktive Sektoren, die Arbeitsplätze schafften und positive Entwicklungseffekte hervorbrächten (sofern nur dem Prinzip der "Nachhaltigkeit" Genüge getan werde).

Die in solchen Argumentationsweisen auflebende Dichotomie zwischen "raffendem" und "schaffendem" Kapital ist historisch und theoretisch falsch; zwar ist eine sachliche Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Anlageformen und ihren Auswirkungen möglich und richtig, aber warum Investitionen in produktiven Sektoren weniger problematisch oder gar moralisch höherwertiger sein sollen, bleibt schleierhaft. Auch sie haben allein den den Zweck der Rendite, sie sind Voraussetzung für Ausbeutung und Naturzerstörung und keinesfalls Ansatzpunkt für eine emanzipatorische Perspektive.

IV. Alarmismus und Weltuntergangsszenarien

Linke Bewegungen neigen pathologisch dazu, in einzelnen Vorhaben hegemonialer Fraktionen von Staat und Kapital dramatische, hochgefährliche Entwicklungen zu sehen, wie z.B. im MAI die drohende "Weltherrschaft der Konzerne". Ohne die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus verharmlosen zu wollen, muß man doch konstatieren, daß viele ähnliche Befürchtungen in der Vergangenheit ziemlich übertrieben waren. Weder Nato-Nachrüstung noch ökologische Katastrophen, wie sie etwa in dem auch von der linken Ökologiebewegung affirmativ rezipierten Weltuntergangsreport "Global 2000" orakelt wurden, haben den Lauf der Welt übermäßig aus dem Gleichgewicht gebracht. Auch das MAI wäre vermutlich ein nicht übermäßig bedeutsamer Mosaikstein im Gesamtgefüge des globalen Kapitalismus gewesen.

Natürlich ist es legitim, einzelne Aspekte der weltwirtschaftlichen Problematik hervorzuheben (solange der Blick für die Totalität kapitalistischer Vergesellschaftung dabei nicht verloren geht). Die Verabsolutierung einzelner hegemonialer Projekte und die damit verbundenen übertriebenen Bedrohungsszenarien begünstigen jedoch nicht nur eine kurzatmige, überhitzte Kampagnenpolitik, sondern stehen auch einer theoretisch fundierten Kapitalismuskritik im Wege.

Diese ist im übrigen nicht immer ganz unschuldig an Weltuntergangsszenarien: Krisentheoretiker wie die Krisis-Gruppe um Robert Kurz neigen dazu, die unbestreitbaren Krisenerscheinungen der Weltökonomie als Anzeichen einer bevorstehenden finalen Krise des Kapitalismus (fehl-) zu deuten. Damit befördern sie nicht nur linken Alarmismus (wenn auch ungewollt), sie können zudem die Frage nicht beantworten, wie der Kapitalismus es immer wieder schafft, sich erfolgreich zu restrukturieren - eine Frage, die in der von vielen Marxisten fälschlicherweise als Gleichgewichtstheorie aufgefaßten Regulationsschule ergiebiger und unaufgeregter behandelt wird.

V. Identitätspolitik

Die Globalisierungsprozesse werden nicht nur von großen Teilen der Gesellschaft als "anonym", fragmentisierend und identitätsauflösend wahrgenommen. Ähnlich wie bei sogenannten "ethnischen" Gruppen spielt auch bei der Soli-Bewegung der Rückbezug auf Gruppenidentitäten eine wichtige Rolle. Diese Identitätssuche ist jedoch in ihrem Falle nicht nur auf das eigene Milieu, sondern stark nach außen gerichtet, indem sie Identitätsbildung auf gesellschaftliche Gruppen im Süden projiziert.

Die vorherrschenden Muster der Identitätsbildung lassen sich in drei Kategorien zusammenfassen:

a) Dominant ist der positive Bezug auf sogenannte ethnische Minderheiten oder Gemeinschaften im Süden. Da das von diesen Gruppen formulierte Selbstverständnis oftmals ausdrücklich im Widerspruch zur jeweiligen Regierungspolitik, zu hegemonialen anderen "ethnischen" Gruppen oder zu ausländischen Konzernen, den USA oder ehemaligen Kolonialmächten steht, gelten sie auch bei Linken als Keimzelle von Opposition oder Widerstand.

Eine Unterstützung von indigenen Gruppen durch die Solidaritäts-Gruppen, etwa gegen die Vertreibung im Rahmen von Staudammprojekten, mag zwar unter menschenrechtlichen Aspekten in vielen Fällen blanke Notwendigkeit sein. Doch die Gefahren einer positiven Bezugnahme auf "ethnische" Identitätsbildung - wie Vertiefung oder zumindest Affirmation von "ethnischen" Spaltungen (die als eine der wichtigsten Ursachen für Konflikte und Kriege gelten können) - werden zu wenig reflektiert. Bei manchen Organisationen wie der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) ist sogar die Grenze zu völkischem Denken bereits überschritten. Was hier unter dem Deckmantel von Menschenrechtspolitik gedacht und geschrieben wird, ist in vielerlei Hinsicht kompatibel mit den Konzepten der Neuen Rechten.

b) Weniger stark verbreitet, doch ähnlich problematisch ist die geschlechtsspezifische Identitätspolitik. Natürlich ist die Thematisierung der geschlechtsspezifischen Diskriminierung in der Weltwirtschaft legitim, ja sogar unverzichtbar.

Doch die Beschwörung einer "weiblichen" Identität ("wir Frauen"), die überdies z.B. bei Maria Mies, Claudia von Werlhof oder Martina Kaller-Dietrich mit einer sehr fragwürdigen Subsistenzperspektive verbunden wird, ist tendenziell biologistisch und verschärft die Geschlechterspaltung eher, als sie zu ihrer Aufhebung beitrüge. Der Widerstand gegen patriarchalische Verhältnisse endet so in der Essentialisisierung dessen, was "weiblich" sein soll.

c) Ein weiteres Beispiel für Identitätspolitik ist die Behauptung einer weltweit existierenden Klasse, die "unten" ist (Marginalisierte, Arbeiterklasse, Proletariat etc.). Mit dem Begriff der "Globalisierung von unten" wird beispielsweise eine Einheit geschmiedet, die nicht mal ansatzweise vorhanden ist. Die Interessen der sogenannten ArbeiterInnenklasse sind derart heterogen, daß sie sich teilweise diametral widersprechen.

Deutsche Sozialhilfeempfänger profitieren durchaus von Niedriglöhnen in Dritte-Welt-Ländern, sind insofern nicht "unten". Die klassenbezogene Variante der Identitätspolitik verkennt, daß jedes Individuum multiple Rollen innehat. Zumindest im Norden ist jede/r in einer Person vereinigt mal Beherrschte/r, mal Beherrscher/in und zwar in einem dynamischen Prozeß, der keine festen Klassenzuordnungen zuläßt.

Diese Erkenntnis schließt interessengeleitete Bündnisse in Einzelfällen überhaupt nicht aus, wie etwa Kooperationen von Gruppen aus Süd und Nord gegen Sozialdumping. Aber diese können nur punktuell und temporär bleiben und müssen sich der Fragilität der Interessenlagen bewußt sein. Im übrigen: Nicht mal das Kapital ist eine homogene Interessengemeinschaft, sondern verfolgt sich teilweise widersprechende Ziele.

VI. Verklärung des Lokalen und des Kleinen

Der Herrschaft der Großkonzerne oder der mächtigen Staaten des Nordens wird als positiver Gegenentwurf gerne das Lokale und das Kleine gegenübergestellt. Beispielsweise beklagte Maria Mies im Zusammenhang mit dem MAI, daß "bayerische Kleinbetriebe" von "amerikanischen Konzernen" niederkonkurriert werden. Abgesehen davon, daß der positive Bezug auf das Lokale hier mit deutlich antiamerikanischen Ressentiments verknüpft wird (obwohl es doch eher deutsche Konzerne sind, die bayerische Kleinbetriebe niederkonkurrieren), ist das, was da idealisiert wird, nicht unbedingt eine Idylle: Der "bayerische Kleinbetrieb" kann für die Angestellten ein Hölle sein, mit einem autoritären Chef, der polnische ErntehelferInnen zu Hungerlöhnen beschäftigt oder seine Ehefrau zu unentlohnter Arbeit zwingt. Die romantisierende Beschwörung des Lokalen hat zudem heimattümelnde Aspekte, wie z.B. die Regionalismus-Bewegungen in vielen Teilen Deutschlands.

Gleiches gilt für die sogenannten indigenen, dörflichen Gemeinschaften im Süden, die als positives Gegenbild zur globalen Herrschaft der Industrieländer aufgebaut werden. Die Soli-Bewegung ist in vielen Fällen geneigt, über die in ihnen oftmals herrschenden autoritären und patriarchalischen Strukturen hinwegzusehen, wie etwa bei den indischen Adivasi.

VII. Vom Internationalismus zum Inter-Nationalismus

In zahlreichen Stellungnahmen zum MAI wurde beklagt, daß durch die vorgesehenen Regelungen nationalstaatliche Souveränität unterhöhlt werde und die Staaten politische Gestaltungsfähigkeit, etwa im Bereich der Umwelt- und Sozialpolitik, an die transnationalen Konzerne verlören.

Diese Argumentation ist vollkommen undialektisch, suggeriert sie doch, daß nationalstaatlich verfaßte Herrschaft "volksfreundlicher" sei als die des Kapitals. Sie unterschlägt, daß zwischen nationalstaatlicher und kapitalistischer Vergesellschaftung ein enger, untrennbarer Zusammenhang besteht, und negiert damit die Erkenntnisse der (neo-) marxistischen und anarchistischen Staatstheorien.

Da im positiven Bezug auf Nationalstaaten und deren Politikoptionen jedes herrschaftskritische Element verloren geht, ist es kein Wunder, daß rechte Nationalrevolutionäre das MAI mit teilweise sehr ähnlichen Argumenten ablehnten wie manche Linke. Der Begriff des Internationalismus erhält so einen neuen, ziemlich bitteren Beigeschmack: Inter-Nationalismus.

Dieser Befund gilt nicht nur für Europa: In Indien beispielsweise werden ausländische Konzerne seit jeher nicht nur von der Linken abgelehnt (mit teilweise außerordentlich fragwürdigen nationalistischen Argumenten etwa seitens der CPI/M), sondern auch von hindu-nationalistischen Parteien wie der BJP. Die Hindu-Nationalisten agitieren seit Jahrzehnten gegen Coca-Cola, den US-Imperialismus und "westliche Dekadenz". Die Agitation gegen das MAI wurde von dieser Bewegung zur nationalistischen Hetze und zur verbalen Stärkung indischen Kapitals genutzt.

Das vorläufige Scheitern des MAI ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, daß linke wie rechte MAI-Gegner vor allem die nationalistische Karte ausspielten und so ohne große Widerstände Gehör bei ohnehin zu Chauvinismus neigenden Regierungen fanden. Die so bewirkte Stärkung nationalistischer Denkmuster bei Eliten wie Bevölkerung ist nichts, was die Soli-Bewegung als Sieg begreifen sollte.

Die Affirmation der nationalstaatlicher Vergesellschaftung durch die Soli-Bewegung geht überdies einher mit dem alten linkskeynesianischen Irrtum, der Staat sei gerechter als der Markt - wie es uns SPD, Grüne, PDS oder auch die meisten Dependenztheoretiker glauben machen wollen. Keynesianische Politik ist Krisenpolitik zur Stabilisierung kapitalistischer Verhältnisse und hat mit der freien Assoziation der Menschen nichts zu tun. Wenn Staaten und Eliten in bestimmten historischen Perioden sozialstaatliche Befriedungsstrategien anwenden, sind diese genauso disziplinierend und exklusiv wie der Markt, der theoretisch ja auch die volle Freiheit des Individuums sichert.

Um mit zwei Begriffen von Joachim Hirsch zu sprechen: Der keynesianische "autoritäre Sicherheitsstaat" ist keine Alternative zum heutigen neoliberalen "nationalen Wettbewerbsstaat". Die besondere Ironie in der Renaissance des Linkskeynesianismus liegt im übrigen darin, daß all die Institutionen wie IWF, Weltbank oder OECD, die die Soli-Bewegung seit langem bekämpft, Resultat keynesianischer Politik auf internationaler Ebene sind.

Von diesen grundsätzlichen Einwänden abgesehen, ist es ziemlich naiv zu glauben, "die Politik" oder "die Staaten" ließen sich von "den Konzernen" das Heft vollständig aus der Hand nehmen. Die MAI-Verhandlungen selbst wie auch die Politik von WTO, IWF etc. sind Beispiele dafür, daß internationale Wirtschaftspolitik sehr wohl handlungsfähig ist. Daß sie vor allem hegemoniale Interessen mächtiger Wirtschaftsblöcke bedient, versteht sich von selbst.

VIII. Gleichsetzung von Kapitalismus und Neoliberalismus

Das Wort "Kapitalismus" ist selbst in großen Teilen der Linken out. Es scheint, als habe der Begriff "Neoliberalismus" eine Ersatzrolle übernommen. Das meiste, was am und als Neoliberalismus kritisiert wird, gehört jedoch schlichtweg zu den systemimmanenten Widersprüchen des Kapitalismus, wie der Drang zur räumlichen und sektoriellen Expansion, Ausbeutung oder Umwelt- und Sozialdumping.

Indem eine vorübergehend dominante Ideologie kapitalistischer Restrukturierung gleichgesetzt wird mit dem Kapitalismus selbst, geraten nur gewisse "neoliberale Auswüchse" des Kapitalismus in den Blick, wie beim MAI der Abbau rechtlicher Schranken bei Direktinvestitionen.

Die NGOs Weed und Germanwatch beispielsweise lehnten am MAI vor allem das zu befürchtende "freie Spiel des Marktes" ab. Ihre Kritik gipfelte in der Äußerung: "Investitionen als solche führen keineswegs automatisch zu einem positiven Entwicklungseffekt, sondern nur unter bestimmten Rahmenbedingungen, die in der Regel politisch gesetzt werden müssen." Hier ist keinerlei kategorielle Kritik am Verwertungsprinzip des Kaptalismus mehr enthalten, sondern seine immanenten Widersprüche werden in klassisch-bürgerlicher Manier zu einem Managementproblem erklärt. Das jedoch blamiert sich schon seit den Zeiten des Manchester-Kapitalismus an der Realität.

Darüber hinaus unterliegen Ansichten wie die von Germanwatch einem mehrfachen Mißverständnis: Es wird erstens unterschlagen, daß neoliberale Politik in hohen Maße etatistisch ist (daß sie das Gegenteil von sich behauptet, ist pure Ideologie).

Zweitens wird der Neoliberalismus "übergroß geredet" und zu einem "apokalyptischen Untier" aufgebauscht (Hans Peter Krebs). Neoliberalismus ist jedoch eine bruchstückhafte Krisenbewältigungsideologie, deren Hegemonie zugunsten neokeynesianischer Krisenbewältigungsideologie längst im Schwinden ist. Selbst Neoliberale wie der Chefvolkswirt der Weltbank, Stiglitz, haben mittlerweile Angst vor dem Geist, den sie mit der Deregulierung der Finanzmärkte aus der Flasche ließen.

Drittens schließt die Ablehnung des Neoliberalismus nicht notwendig eine Gegnerschaft zum Kapitalismus ein: Auch alt-liberale, konservative oder gar faschistische Strömungen lehnen das Modell des orthodoxen Neoliberalismus ab, ohne daß damit irgendein emanzipatorischer Anspruch verbunden wäre.

IX. Köln 1999: Wiederholung der Geschichte?

Anläßlich der im Juni 1999 geplanten Aktivitäten gegen Weltwirtschafts- und EU-Gipfel stellt sich die dringende Frage, ob die Soli-Bewegung sich in den oben genannten Fallstricken des Internationalismus verfängt und erneut einer verkürzten Kapitalismuskritik unterliegt oder ob sie sich davon emanzipieren kann. Die Debatte um die Rolle der Nationalstaaten wurde mit teilweise erfreulichen Ergebnissen auch in der Anti-MAI-Bewegung selbst geführt.

Zudem ist die von den Autonomen bis zu christlichen Gruppen verbreitete Theoriefeindlichkeit einem neuen Interesse an theoretisch fundierter Kapitalismuskritik gewichen. Es kommt jetzt darauf an, daß diese Gruppen - vom Buko bis zu Fels, von den Anti-MAI-Gruppen bis zu den Antinationalen - ihre Einsichten nicht für sich behalten, sondern die (vor allem mediale) Hegemonie der Inter-Nationalisten, Lobbyisten und Linkskeynesianer aufbrechen.

Der Autor ist Mitarbeiter des Informationszentrum 3.welt (iz3w) in Freiburg.