Martin Walser und Rudolf Augstein im 'Spiegel'

Krieg und Mutti und Deutschland

Bis vor kurzem glaubte ich, die Mutterkatastrophe des Jahrhunderts persönlich zu kennen. Sie lebt, dachte ich, als Rentnerin in Niedersachsen und will zu Weihnachten besucht werden. Nun aber veröffentlichte der Spiegel ein exemplarisches Streitgespräch zweier Laienhistoriker. Im September waren sie nach Südfrankreich gereist, um dort ein Zeitalter zu besichtigen: unser Jahrhundert, das sich sommers bekanntlich in Südfrankreich aufhält.

Der eine war Rudolf Augstein, bald 75, ein Semiprofessioneller, aus dem wohl, hätten die Engländer ihm nicht eine Zeitungslizenz nachgeworfen, ein minderer Golo Mann geworden wäre. Der andere war Martin Walser, 71 Jahre alt, ein blutiger Dilettant, der Geschichtsforschung aus persönlichem Interesse betreibt. Er will sich mit seiner Jugend und mit Deutschland versöhnen.

Daß die Deutschen heute längst ein ganz normales Volk seien, darauf einigte man sich schnell. Doch dann begann der Krach. Der Erste Weltkrieg, analysierte Walser, sei die

"Mutterkatastrophe" des Jahrhunderts gewesen, aus der alles andere zwangsläufig entstand. Dennoch könne man nicht behaupten, niemand habe ihn gewollt, erwiderte Augstein. Die Engländer und die Franzosen nähmen uns den ersten Krieg noch heute übel, "den ersten übler als den zweiten". Walser war perplex: "Mutterkatastrophe", stammelte er noch einmal.

Das Durchschnittsniveau halbbesoffener Thekengespräche erreichten die beiden also mühelos in drei Minuten. Sein Vater sei gegen die Juden gewesen, erzählte Augstein, aber auch gegen Hitler. Weshalb er vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 "der Mutter ihre naiven Antisemitensprüche verbot". (So sind

sie halt, die Frauen - selbst ihr Antisemitismus bleibt naiv.) Seine Mutter sei schon 1932 in die Partei eingetreten, erzählte Walser, aber aus wirtschaftlichen Gründen, nur so habe sie die Familie durchbringen können.

Augstein erinnerte sich an SA-Männer in Uniform, die ihre Kinder zur Schule brachten. Walser erinnerte sich nicht: "Bist du sicher? Das gibt es doch gar nicht, daß jemand, um sein Kind in die Schule zu bringen, die SA-Uniform anzog. Das halte ich für die nachträgliche Inszenierung eines Films." Allerdings wird auch niemand, um sein Kind in die Schule zu bringen, die SA-Uniform ausgezogen haben.

Hitler befahl die Vernichtung der europäischen Juden. "Hätte er das Gegenteil befohlen", vermutete Augstein, "hätten alle das Gegenteil getan". Aber ein philosemitischer Hitler, so könnte man mit heutigen Begriffen sagen, verliert an Glaubwürdigkeit, in der Folge stellt Politikverdrossenheit sich ein, und die Extremisten von rechts und von links ... Nein, so wär's auch nicht gegangen.

Er habe sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet, erklärte Walser, um sein "Selbstwertgefühl" zu retten. "Das hatte mit Politik nichts zu tun." Außerdem sei ja seit Kriegsbeginn die üble Nazi-Ideologie im "Gewölk des Patriotismus" verschwunden. Augstein war ein innerer Deserteur an der Ostfront, der seine Einheit immer dort suchte, wo sie bestimmt nicht war. Trotzdem hätte er es, unterstellte Walser, bei günstigem Kriegsverlauf zum General gebracht. Die beiden sind wirklich ganz normal.

Es gibt heutzutage im Kino so viele deutsche Komödien. Man sollte auch dieses Gespräch verfilmen. Mit Heinz Schubert als Augstein, Horst Tappert als Walser und Witta Pohl als Mutterkatastrophe.