Saddam auf Ethno-Trip

Das irakische Regime forciert die Arabisierung der Stadt Kirkuk

Chemchemal gleicht auf den ersten Blick vielen anderen Grenzstädten. Das Alltagsleben ist auf die Hauptstraße ausgerichtet, die von der Grenze kommt und die Durchreisenden in die Stadt bringt. Fliegende Händler bieten ihre Waren an, in Garküchen können sich die Berufsfahrer verpflegen, und ölgetränkte Areale voller Autoreifen und alter Karosserieteile dienen als improvisierte Werkstätten, in denen durchfahrende Wagen gewartet werden können.

Chemchemal ist zwar Grenzstadt, liegt aber an keiner Staatsgrenze. Die kurdische Kleinstadt zwischen Kirkuk und Suleymania befindet sich an der Demarkationslinie, die den kurdisch kontrollierten Teil im Nordirak vom Rest des Landes trennt. Ne-ben dem minimalen offiziellen Handel und dem Schmuggel hat sich eine andere Art des Grenzverkehrs etabliert: Fast täglich erreichen Flüchtlinge aus Kirkuk den Nordirak.

Seit März dieses Jahres verschickt die irakische Regierung "Ausweisungsgestellungen" an kurdische Familien, die im Gebiet Kirkuk wohnen. Innerhalb einer Frist müssen sie ihren Wohnort verlassen, um in den kurdisch kontrollierten Teil des Nordirak deportiert zu werden. Teil dieser Praxis ist, einen Familienangehörigen als Geisel zu nehmen. Die Drohung: Sollte die Familie nicht kooperieren, würde der Inhaftierte gefoltert. Aller nichtbewegliche Besitz wird vor der Deportation von den irakischen Behörden beschlagnahmt, ehe die ausgewählten Familien zur Demarkationslinie gebracht werden, um dann zusammen mit der Geisel auf kurdisches Territorium abgeschoben zu werden.

Seit über vierzig Jahren versuchen irakische Regierungen, die nordirakische Region um die Stadt Kirkuk mit loyalen Arabern zu besiedeln. Erklärtes Ziel ist die Kontrolle über das Gebiet, in dem etwa ein Drittel der irakischen Ölvorräte liegen. Und Kirkuk ist als eines der Widerstandszentren der kurdischen Opposition bekannt. Nach der Machtübernahme Saddam Husseins 1979 begann eine systematische Arabisierung des Gebietes, die 1988 im Rahmen der sogenannten Al-Anfal-Kampagne ihren Höhepunkt erreichte. In dieser Zeit wurden alle Dörfer im Gouvernement Kirkuk, die von Kurden besiedelt waren, zerstört und ihre Bewohner in Sammelstädte gebracht. Im Umland Kirkuks wurden neue, arabische Dörfer aufgebaut.

Dieses Vorhaben wurde von den Ereignissen im Jahre 1991 noch beschleunigt. Nachdem es den Kurden gelungen war, Kirkuk von der irakischen Armee zu befreien, eroberte es die Militärs nach zehn Tagen wieder zurück. Als einzige große Stadt blieb Kirkuk auch in der Folgezeit unter irakischer Kontrolle. Tausende Kurden, die vor den anrückenden irakischen Truppen geflohen waren, kehrten nicht zurück, sondern blieben aus Angst vor Vergeltungsaktionen in den kurdisch kontrollierten Gebieten. Ihre Häuser wurden größtenteils schon vor Jahren beschlagnahmt und treuen Anhängern des Regimes als Belohnung für ihre Dienste geschenkt.

Seit nun die Zentralregierung offensichtlich nicht mehr damit rechnet, in absehbarer Zeit den ganzen Nordirak wieder kontrollieren zu können, hat sie mit der systematischen Arabisierung von Kirkuk und Khannaqin - einer zweiten großen, kurdisch besiedelten Stadt im Erdölgebiet - begonnen. Es soll nicht nur jede Opposition ausgeschaltet werden, das Regime verfolgt ein weiteres Ziel: die kurdischen Ansprüche auf Kirkuk zu entkräften. Kurdische Parteien - vor allem die Patriotische Union Kurdistans (PUK) - fordern, Kirkuk in die Autonomiezone einzubeziehen. Ohne kurdische Mehrheitsbevölkerung hätte diese Forderung keine Bedeutung mehr.

Neu an der Politik der Zentralregierung ist die Offenheit des Vorgehens. Ging die Arabisierung bisher eher schleichend und "heimlich" vonstatten, wird sie jetzt öffentlich propagiert. "Verlorener arabischer Boden" soll zurückgewonnen und zugleich die Kurden als Gruppe zu Feinden erklärt werden. Zerstörte kurdische Dörfer in der Region werden wieder aufgebaut, mit Arabern besiedelt und zudem mit israelische Städtenamen wie Jaffa, Akko und Haifa benannt. Was, so die Propaganda, die Araber an ihre Feinde, die Israelis, verloren haben, gewinnt jetzt der irakische Staat von ihren anderen Feinden, den Kurden, zurück. Da sich aber die Araber der Region weigern, diese zentral gelenkte Ethnisierung mitzumachen, greift das Regime auf Stämme aus dem westlichen Zentralirak zurück, die für ihre Loyalität gegenüber Hussein bekannt sind.

In Kirkuk, wo noch vor wenigen Jahrzehnten Kurden, Araber, Assyrer und Turkmenen nebeneinander lebten, wird mit ähnlich drastischen Maßnahmen die demographische Struktur verändert. In einigen Jahren soll Kirkuk so arabisch sein, wie es heute das südirakische Basra ist, formulierte kürzlich ein Mitarbeiter des Innenministeriums. Systematisch werden Straßen, öffentliche Gebäude und Plätze mit kurdischen Namen umbenannt. Das kurdische Stadtzentrum, das sich innerhalb der Mauern einer alten Burganlage befand, wurde größtenteils zerstört, statt dessen ein Militärcamp gebaut. Kurdischen Bewohnern der "arabisch" deklarierten Stadtviertel droht die umgehende Ausweisung, es sei denn, sie ändern ihre Namen und treten in arabische Stämme ein. Auch weigern sich die Behörden, Personalausweise und Lebensmittelkarten für Kurden zu verlängern oder neu auszustellen.

Schon 1997 wurden von der europäischen Öffentlichkeit unbeachtet über 850 Familien in den kurdisch kontrollierten Teil des Nordiraks ausgewiesen. Statistiken des zentralen Registrierungsbüros für "Internal Displaced Persons" in Suleymania sprechen von 1 572 Familien (wobei eine Familie durchschnittlich aus acht bis zehn Personen besteht), die von Januar bis Anfang Oktober dieses Jahres gewaltsam gezwungen wurden, Kirkuk zu verlassen.

In Arbil erwartet die Neuankömmlinge ein Leben ohne Perspektive in einem Camp fernab jeder Stadt. In den Flüchtlingsunterkünften, die eigentlich nur für eine kurze Aufenthaltsdauer bestimmt sind, leben einige der "Internal Displaced Persons" schon seit sieben Jahren. Sie sind völlig abhängig von der Hilfe, die die UN und die Hilfsorganisationen ihnen zukommen lassen.

Offenen Protest gegen die Arabisierungspolitik Iraks hat es bisher nur von amnesty international und der Irakischen Kommunistischen Partei gegeben. Der zuständige Vertreter der UN etwa erklärte lediglich, er habe kein politisches Mandat und sei nur für humanitäre Angelegenheiten zuständig. Die UN-Resolution 688 von 1991 scheint vergessen. Darin wird Hilfsorganisationen freier Zugang zu allen Teilen des Irak garantiert und der Regierung in Bagdad verboten, aus ethnischen Gründen gegen Bevölkerungsteile vorzugehen.

Dies verhinderte aber nicht, daß Hussein die Sumpfgebiete des Südiraks austrocknen und die dortige Bevölkerung vertreiben und deportieren ließ. International war das Interesse an der Lage der Bevölkerung im Irak bisher vergleichsweise gering, nur die Konflikte um die Waffenkontrolleure der Unscom rücken die Situation im Irak noch kurzfristig ins Zentrum des Interesses. Daß es im Irak eine systematische Vertreibungspolitik gibt, scheint auch diejenigen wenig zu interessieren, die ansonsten weltweit - sei es auf dem Balkan, in der Türkei oder anderswo - "Ethnozide" wittern. Vielleicht liegt dies auch daran, daß sowohl Kurden wie arabische Oppositionelle nicht als "ethnische Gegner" klassifiziert werden wollen. Dabei läge eine Ethnifizierung des Konfliktes durchaus im Interesse der irakischen Zentralregierung, um die Opposition nicht nur brutal zu unterdrücken, sondern auch zu spalten.

Nachdem sich Ende September die beiden großen kurdischen Parteien in Washington auf ein Ende des seit vier Jahren währenden innerkurdischen Parteienkrieges einigten (Jungle World, Nr. 40/98), gehen die Behörden in Suleymania davon aus, daß die Arabisierungspolitik in und um Kirkuk noch weiter intensiviert wird. Jedenfalls fällt es Husseins Regierung jetzt leichter, alle Kurden als US-Spione und Feinde der arabischen Sache zu denunzieren.

Nach Schätzung des Gouverneurs von Neu-Kirkuk, Jalal Jawhar, der politisch die Kirkuk-Flüchtlinge in der kurdisch kontrollierten Region vertritt, sind bereits über 60 Prozent der Bevölkerung von Kirkuk Araber. Ziel der irakischen Politik sei es, so Jawhar, den kurdischen Bevölkerungsanteil in Kirkuk unter zehn Prozent zu drücken. Deswegen sei mit der Deportation von über 100 000 weiteren Kurden in der nächsten Zeit zu rechnen.