Scrabble auf dem Langflor-Teppich

An Don DeLillo, dessen Roman "Unterwelt" sie wie kein zweites Buch dieses Jahres zum Buch des Jahres erklärt haben, schätzen die meisten Rezensenten, daß sie ihm nicht oft die Hand schütteln können. Man habe es hier, heißt es, mit einem Autor zu tun, der sich rar mache, der nur selten Lesungen abhalte, der wenig Interviews gebe und im Fernsehen gar keine. Ein amerikanischer Journalist, so wird berichtet, soll DeLillo um die halbe Welt nachgereist sein, um ein Interview zu ergattern, doch der Autor habe ihm noch nicht mal "Guten Tag" gesagt, sondern nur seine Visitenkarte überreicht, auf die er gekritzelt hatte: "Ich will nicht darüber reden."

Demselben Journalisten erzählte DeLillo bei glücklicherer Gelegenheit, er ziehe "einige Genugtuung" aus der Tatsache, daß er "so wenig gelesen" werde, er fühle sich "durch ein Publikum reduziert", und vielleicht ist es diese legendenbildende Schroffheit dem Publikum gegenüber, der DeLillo sein inzwischen so zahlreiches Publikum verdankt. Was ihm, will man ihm glauben, in Zukunft das Schreiben nicht leichter machen wird, die Arbeit an, mit und unter Maßgabe der Sprache, der einzigen Instanz, deren Forderungen DeLillo ernstzunehmen scheint: "Der Rhythmus eines Satzes", sagt er, "erlaubt eine bestimmte Anzahl Silben. Eine Silbe zuviel - und ich suche nach einem anderen Wort."

Auch in "Unterwelt" spricht DeLillo an vielen Stellen aus, welches Gewicht er der Sprache, den Sätzen, Wörtern und Silben, beimißt. Es sind Stellen, die sich programmatisch lesen, so wenn Nick Shay, Sohn italienischer Einwanderer aus der Bronx, der einen Teil seiner Jugend in einer von Jesuiten geführten Besserungsanstalt zubringt, von einem Pater aufgefordert wird, die Bestandteile seiner Schuhe aufzuzählen. Sohle, Absatz, Zunge und Schnürsenkel fallen ihm noch ein, nicht aber: Einfassung, Kappe, Seitenleder, Vorderblatt, Senkelblech, Ösenkranz. Er lernt daraus, wie wichtig es ist, genau zu sein; die Dinge haben nur als erkannte und unter Bezeichnungen eingeordnete keine Macht über die Menschen; man muß die Kunst beherrschen, die Wörter wie Pfeile abzuschießen, um die Gegenstände zu treffen.

Nick geht auf sein Zimmer und schlägt sein Wörterbuch auf: "Ich wollte Velleität nachschauen und habituell und die Mistviecher auswendig lernen bis in alle Ewigkeit, buchstabieren, memorieren, Silbe für Silbe aussprechen - vokalisieren, phonieren, die Laute von mir geben, die Wörter sagen, als hinge mein Leben davon ab. Dies ist die einzige Möglichkeit auf der Welt, den Dingen zu entrinnen, die dich geprägt haben." Es ist derselbe Nick Shay, der später seinen Kindern erklären wird: "Eine Trosse ist ein Tau, mit dem ein Schiff festgemacht wird." Und: "Diese kleine eingekerbte Stelle unten an der Zahnpastatube. Die heißt Falz."

Genauigkeit, der treffende Ausdruck, das richtige Wort: Was Nick Shay sich vornimmt, ist das, was sein Autor sich vorgenommen hat, vielleicht der wichtigste Anspruch, der an einen literarischen Text gestellt werden kann. Er bleibt unproblematisch, solange DeLillo ihn nur formuliert; doch sobald er versucht, ihm gerecht zu werden, wird die Sache schwierig: "Esther Winships Wohnung war verschwenderisches Understatement, Beige, gebrochenes Weiß, große, statiöse Sofas, die nicht nachgaben, wenn man sich hinsetzte, und weite Flächen graubraunen, langflorigen Teppichs, fast keine Bilder, und die wenigen, die Esther zum Aufhängen auswählte, blieben so zurückhaltend, daß es fast schon wieder wurscht war."

Beschreibungen wie diese, soviel teilt auch die Übersetzung mit, belegen, daß DeLillo präzise und anschaulich zu schildern vermag, der Leser kann sich Esther Winships Wohnung genau vorstellen und den Teppich dieser Wohnung genauer und detailreicher als den Teppich einer Wohnung, in der er vor zwei Tagen zu Besuch war. Stärker noch aber zeigen solche Beschreibungen die Vorsätzlichkeit, mit der sich hier ein Autor um die Herstellung von Literatur bemüht, die Anstrengung, die es ihn - und den Übersetzer - gekostet haben muß, solche seltenen und gewiß treffenden Wörter zu finden wie "statiös" oder "langflorig" oder auch "wurscht".

Es spricht wenig gegen diese Anstrengung, außer dem Umstand, daß man sie sieht und besser sieht als die Bilder, zu deren Erzeugung sie aufgewandt wird: Besser noch als Esther Winships Wohnung kann man sich DeLillos Wohnung vorstellen, der Autor sitzt am Schreibtisch, er blättert in einem Wörterbuch und jagt wie sein Held Nick Shay nach den Wörtern, den richtigen, den passenden. Und setzt, auch das spricht gegen diese Anstrengung, sein ganzes Vertrauen in die Wörter, die er gefunden hat - ein Vertrauen, das Mißtrauen weckt, denn dazu ist der Skrupel, ob die verwendeten Wörter die richtigen sind, zu glaubwürdig, als daß man glauben könnnte, er sei mit Wörtern wie "statiös" oder "langflorig" zu beruhigen.

Die Frage nach dem angemessenen Ausdruck schließt für DeLillo auch die Frage ein, ob es einen angemessenen Ausdruck überhaupt geben kann, so wenn an einer Stelle von "Unterwelt" darüber gerätselt wird, worin denn, bei so großer Ähnlichkeit der Wörter, der Unterschied zwischen Orangensaft und dem chemischen Kampfstoff Agent Orange liegt. Doch geht diese Frage nicht in die Darstellung ein, sie geht unter, sobald nicht mehr über Sprache reflektiert, sondern mit Sprache gearbeitet wird, und ein paar Seiten weiter hinten stehen dann wieder so selbstsichere, der eigenen Ausdrucksmöglichkeiten gewisse Sätze wie: "Es war der Dachterrassen-Sommer, der Sommer des Wetterleuchtens, und sie beobachtete, wie Gewitterwolken im Licht des niederschießenden Blitzes weiß wurden."

Vielleicht schiebt sich DeLillos Vorsatz, Literatur herzustellen, auch deshalb so stark in den Vordergrund, weil die Literatur, die DeLillo herstellen will, ziemlich genau dem entspricht, was man sich unter Literatur so vorstellt. Das betrifft stärker noch als die Sprache das Sujet des Romans, ein Sujet, das mit Schreibskrupeln nichts mehr zu tun hat, sondern an das sich im Gegenteil nur ein Autor wagen kann, der fest darauf vertraut, Gegenstände in Wörter, Handlungen in Sätze, Wirklichkeit in Literatur verwandeln zu können.

"Unterwelt" sei der Versuch, sagt DeLillo, "die Subgeschichte des Kalten Krieges zu erzählen". Die Handlung ist in eine nicht nacherzählbare Folge von Strängen und Szenen aufgesplittert, sie reicht vom Jahr 1951 bis in die Gegenwart, es treten auf: Lehrer, Krankenschwestern, Künstler, Manager, Radiomoderatoren, Arbeits- und Obdachlose; Kinder, Erwachsene und Alte; Mitglieder der italienischen, jüdischen, irischen und schwarzen Community; auch eine Handvoll Personen der Zeitgeschichte, der FBI-Chef John Edgar Hoover etwa oder der Komiker Lenny Bruce. Vertreter aller Bereiche der amerikanischen Gesellschaft also und eben dazu, die gesamte amerikanische Gesellschaft zur Zeit des Kalten Krieges zu vertreten, ersonnen und in Szene gesetzt.

Dieses Vertrauen darauf, die Figuren eines Romans könnten die Wirklichkeit repräsentieren, ist schon deshalb fragwürdig, weil nicht ausgemacht ist, ob sie das überhaupt sollten. Es spricht vieles dagegen, etwa der nicht ganz neue Verdacht, die im Roman nachgebastelte Wirklichkeit verhalte sich gegenüber der da draußen unweigerlich affirmativ - ein Verdacht, der akut wird, wenn man DeLillo sagen hört, ein Roman könne "das Leben neu ordnen, etwas Schönes und Dauerhaftes hervorbringen". Fragwürdig aber ist vor allem, wenn die Repräsentanzfunktion eines Romans, die sich beim Leser vielleicht notwendig einstellt, weil er erzählte mit erlebten Sachverhalten vergleicht, vom Autor absichtlich eingeführt wird, und zwar so, daß die Absicht spürbar bleibt.

Was sich dann so liest, als wolle der Autor dem Leser vorgreifen, ihm keine andere Wahl lassen, als das konkret Geschilderte auf die Abstraktion zu beziehen, die es vertritt und ohne die es im übrigen auch gar keinen Wert hätte und bloß sinnlos dastände.

Das von der Kritik so einhellig bejubelte 60seitige Baseballspiel, mit dem "Unterwelt" eröffnet, liest sich nicht so, daß man daraus den Schluß ziehen - oder auch nicht ziehen - könnte, daß Baseball die uramerikanische Sportart ist, die im öffentlichen Leben der USA eine kaum zu überschätzende Rolle spielt. Sondern weil Baseball die uramerikanische Sportart ist, eröffnet "Unterwelt" mit einem Baseballspiel. Daß Matt Shay, der jüngere Bruder von Nick Shay, an der Entwicklung von Atomwaffen arbeitet, läßt nicht auf die Bedeutung schließen, die die atomare Bedrohung zumal während des Kalten Krieges auch im Alltag besaß. Sondern weil diese Bedrohung auch im Alltag so groß war, arbeitet Matt Shay an der Entwicklung von Atomwaffen.

Ein Verfahren, das fast schon peinlich wird, wenn DeLillo auf Themen zu sprechen kommt, die auch in der Gegenwart eine Rolle spielen, das Müllproblem etwa, repräsentiert durch Nick Shay, Manager in einer Abfallbeseitigungs-Firma. Hier tritt neben den Vorsatz, Wirklichkeit in Literatur zu verwandeln, der Vorsatz, mittels Literatur in die Wirklichkeit einzugreifen; es soll auf ein Problem verwiesen werden, das verdrängt und deswegen immer drängender wird. Weshalb Nick Shay im "Das Kapital" betitelten Epilog des Romans nach Rußland fahren muß, um sich anzuschauen, wie die Russen hochverseuchten Sondermüll aus den westlichen Ländern mittels unterirdischer Wasserstoffbomben-Explosionen zum Verschwinden bringen.

Was dabei herauskommt, ist ein literarisierter Greenpeace-Report, und so alarmierend dieser im Original sein könnte, so wenig ist es sein literarisches Double, das eben nicht an Müll und Umweltverschmutzung denken läßt, sondern bloß daran, daß man schon lange keinen Greenpeace-Report mehr in der Hand gehabt hat.

Einen "Schrei nach der Kraft der Literatur" hat ein Kritiker das Buch genannt. Die Frage ist nicht entschieden und vielleicht auch nicht besonders interessant, ob ein Roman, in dem ständig nach der Kraft der Literatur geschrieen wird, auch Literatur sein kann. Interessanter und wichtiger ist die Frage, wie man es anstellen soll, Literatur herzustellen, ohne ständig nach der Kraft der Literatur zu schreien. So wie Don DeLillo jedenfalls nicht.

Don DeLillo: Unterwelt. Aus dem Amerikanischen von Frank Heribert. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998, 966 S., DM 54