65. Das Nichts des Lichts

Fortgesetzte Erzählungen

Die meiste Zeit war ich alleine in meiner Höhle und staunte über die Bilder an der Wand.

Ein paar Mal am Tag wurde es völlig dunkel, es verschwand der nahezu viereckige helle Fleck mit den Bildern, und die leuchtende Öffnung der Höhle war fast ganz ausgefüllt von der schwarzen Masse meiner Mutter, die grunzend hereinkam. Sie warf mir etwas zu essen hin, verschwand in einer dunklen Ecke und alsbald erschien auch der helle Fleck wieder.

Ich patschte mit der Hand gegen die Wand, um eine Figur festzuhalten, aber sie bestand aus nichts, hatte keine Substanz und fühlte sich so an wie die dahinterliegende Felswand. Kühl und sandig.

Wenn ich dann in die dunkle Ecke kroch und mich an die weiche warme Masse meiner Mutter schmiegte, sah ich einen breiten Balken aus Licht, in dem viele winzige Körper tanzten. Er reichte von der Tür bis an die Rückwand, und ich ahnte, daß es diese rätselhafte Substanz, aus der dieser Lichtbalken bestand, war, die den großen hellen Fleck erzeugte.

Sie war so rätselhaft wie die bewegten Figuren an der Wand. Ich konnte sie nur sehen, wenn der dicke breite Balken durch die Tür kam, doch nicht fühlen, nicht hören und nicht riechen. Sie war nicht wärmer oder kälter als der Raum dort, wo kein Balken war, nicht dicker und nicht dünner, und roch auch nicht anders, und im Grunde war es falsch, sie als Substanz zu bezeichnen, obwohl ich ich das immer tat, weil ich kein anderes Wort dafür wußte.

Sie war im Grunde ebenfalls ein Nichts. Ich konnte durch sie hindurchgehen und spürte sie nicht einmal, und sie war so wenig greifbar wie die winzigen Körper, die in dem langen Lichtbalken tanzten. Ich dachte aber, es seien vielleicht die Seelen der Menschen, die früher in dieser Höhle unterhalb der Akropolis gelebt hatten und lange tot waren.

Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, wenn ich blind gewesen wäre. "Wie kann es sein", fragte ich mich, da ich sehen konnte, "daß ich etwas sehe, das es nicht gibt? Gibt es diese Figuren und das Licht vielleicht nur, weil ich sehen kann, und ist es dann so, daß es die Dinge, die ich sehen kann, nicht gäbe, wenn ich nicht sehen könnte?

Gibt es vielleicht auch das nicht, was ich höre, und existiert es nur, weil ich hören könnte? Sind auch die Wände meiner Höhle und der sandige Fußboden und die weiche warme Masse meiner Mutter und alles, was ich mit meinem eigenen Körper fühle, nicht wirklich vorhanden und nur Sinnestäuschungen?"

So vertrieb ich mir die Zeit mit nutzlosen Überlegungen, während ich darauf wartete, endlich laufen zu lernen oder wenigstens vernünftig zu denken, und gelegentlich kroch ich schon mal versuchsweise bis an die helle Öffnung, durch die meine Mutter hereinkam, wenn sie von der Arbeit kam, aber das Licht draußen war so grell, daß ich fast nichts erkannte, außer ein paar Dingen, die sich vor der Öffnung hin und her bewegten und seltsame Laute von sich gaben, und manche konnte ich auch riechen.

Sie stanken so entsetzlich, daß sogar ich sie riechen konnte, aber nicht anfassen, weil zwischen uns diese dicke Schicht aus Licht sich befand, die aber vermutlich ebenfalls nicht existierte, wenn sie aus derselben Substanz bestand wie der Lichtbalken und der Fleck auf der Wand, die auch nur so taten, als gäbe es sie.

Sie sehen schon: Man ist dem Wahnsinn nahe, solange man klein ist. "Ist es möglich", fragte ich mich, wenn eines dieser stark stinkenden Getüme draußen vor meiner Höhle schnell entlangkroch, "daß es Dinge gibt, die es nicht gibt und die dennoch stinken?" Kann etwas stinken, das es gar nicht gibt? Kann man dann auch etwas fühlen, das es nicht gibt, so wie es Dinge gibt, wie die Figuren an der Wand meiner Höhle, die man nicht betasten und nicht fühlen kann, obwohl es sie gibt, weil es sie geben muß, weil ich sie sonst nicht sehen könnte?"

Die Mutter schimpfte, es sei gefährlich, so weit in die Nähe der Öffnung zu kriechen, ich könnte hinausfallen, und die Welt sei böse dort draußen. Böse Menschen und Tiere, böse Männer vor allem, die nur darauf warteten, mich in ihre Gewalt zu bringen.

Das ging eine Zeitlang gut, aber als ich größer wurde und neugieriger und endlich laufen konnte, hörte ich eines Tages eine Stimme, die rief:

"Was hockst du in deiner Höhle und denkst, die Schatten auf der Wand wären die Dinge an sich? Komm heraus, dummer Junge, ich will dich lehren, die Dinge wirklich zu erkennen, du wirst es nicht bereuen."

"Wer bist du?" fragte ich ängstlich.

"Ich bin Andokides, der große Redner und Staatsmann, der so berühmt ist, daß sogar die Schulkinder seine Reden auswendig lernen müssen. Ich will dich zu meinem Sklaven machen und du wirst haben, was dein Herz begehrt und an nichts soll es dir fehlen."

Nun wußte ich natürlich nicht, was mein Herz begehrte oder was mir fehlte, und an sich begehrte mein Herz so wenig wie mir fehlte, aber die Verheißung, daß es dort draußen etwas gäbe, das die Rätselhaftigkeit meiner Höhle vielleicht mit einem Schlag erhellen würde, gab den Ausschlag.

So wurde ich Sklave bei Andokides, und es fehlte mir an nichts, nachdem ich micht an das grelle Licht und die Menschen und Dinge und stinkenden, kriechende Getüme, die übrigens nicht krochen, wie ich bald bemerkte, sondern auf vier Beinen liefen, gewöhnt hatte, und da ich nichts anderes kannte, ging ich zunächst mal davon aus, daß alles so war, wie es zu sein hatte.

Ich lernte zwar, daß nicht alle Menschen Sklaven waren, es gab Menschen, die weitaus schlechter behandelt wurden als wir Sklaven, und Sklaven, die weitaus schlechter behandelt wurden als ich, aber es lag nahe, daß die Welt so beschaffen war, wie sie sich mir darstellte, und wenn ich mein Leben genau betrachtete, war klar, daß ich es hätte schlechter antreffen können.

Es war auch so, daß alle Versuche, das Leben etwas angenehmer zu gestalten, streng bestraft wurden, und auf diese Weise verschwand ich eines Tages ziemlich spurlos aus der Geschichte

Man weiß nicht einmal, was aus mir wurde. Ob ich vielleicht schon im Jahre 415 zu Tode gefoltert wurde oder die Folter überstand und vielleicht sogar uralt wurde. Es gab damals ein Gesetz, an dem keiner etwas auszusetzen hatte, wonach zwar kein Bürger gefoltert werden durfte, wohl aber sein Sklave, wenn er vor Gericht aufgerufen war, die Wahrheit oder Unwahrheit einer Aussage seines Eigentümers zu bestätigen, und der Herr mußte zuschauen und seine Aussage galt als wahr, wenn er die Folter seines Sklaven heil überstand, aber besonders angesehene Persönlichkeiten, brauchten nicht selber zuzuschauen, sondern konnten sich von einem Sklaven berichten lassen, wie ihr Sklave die Folter ertrug.

Und da mein Herr Andokides trotz der Schwere der gegen ihn erhobenen Anschuldigungen aus dem Gefängnis entlassen und nur die von ihm selbst beschuldigten Personen hingerichtet wurden, sofern ihnen nicht die Flucht aus Athen noch rechtzeitig gelungen war, und auch seine zahlreiche Sippe und die übrigen dreihundert mit ihm verhafteten Mitglieder des Clubs der Oligarchie wegen erwiesener Unschuld freikamen, obwohl jeder wußte, daß sie zur Partei gehörten, die im Mai 415 in einer Nacht sämtlichen Hermesstatuen der Stadt die Geschlechtsteile abgeschlagen hatten, bis auf eine, und zwar jene, die bis heute der Hermes des Andokides genannt wird ...

Beim eiligen Platon: Jetzt habe ich den Faden verloren!

(Nächste Woche: "Endmoräne")