Starker Mann am Bosporus

Weil Deutschland weiter auf Distanz geht, führt der türkische Staat lieber Geschäfte mit anderen Partnern

Wenn am Donnerstag nächster Woche der Lenkwaffenzerstörer "Salihreis" aus dem Hamburger Hafen an die Türkei geliefert wird, kann man bei Blohm + Voss zufrieden sein. Trotz des Regierungswechsels wäre es der Thyssen-Werft gelungen, die 420 Millionen Mark teure Fregatte, die modernste der Nato, an ein Land zu verkaufen, das für seine Menschenrechtsverletzungen bekannt ist. Für Deutschland wäre die von Bonn mit 75 Millionen Mark subventionierte Lieferung das größte Waffenexportgeschäft dieses Jahres.

Noch jedoch ist es nicht soweit. Vergangene Woche wurde bekannt, daß die Bundesregierung eine Reihe von Rüstungsexportprojekten vorerst auf Eis legen will, um die Aufträge zu überprüfen. Unter anderem soll es Verzögerungen beim Bau eines Kampfhubschraubers der Daimler-Tochter Messerschmitt Bölkow-Blohm (MBB) geben.

Die Äußerungen führender Grünen-Politiker geben dennoch Anlaß zu verhaltener Hoffnung, daß die Waffenverkäufe der deutschen Lieferanten an die Türkei untersagt werden, sollte sich die Lage am Bosporus nicht grundlegend ändern. Claudia Roth, MdB der Grünen und Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, ließ wissen, es "sollten keine Waffen geliefert und keine finanziellen Hilfen zum Ankauf von Rüstungsgütern gewährt werden", solange im Osten der Türkei Kriegszustand herrsche. Und Roths Parteikollegin, die Verteidigungspolitische Sprecherin Angelika Beer, berichtete, es werde für Lieferungen an den Nato-Partner eine Überprüfungskommission eingerichtet. Die SPD will davon nichts wissen. Verteidigungsminister Rudolf Scharping: "Es wird keine Kommission geben."

Auf Jungle World-Anfrage hieß es aus dem Büro Beer, die Politikerin werde sich zu diesem Thema bis auf weiteres nicht mehr äußern. Offenbar wollen die Koalitionspartner ihre Ziele deutscher Außenpolitik in der Türkei nicht auch noch öffentlich debattieren, nachdem Joseph Fischer seinen Kabinettskollegen Scharping schon gegenüber der US-amerikanischen Regierung mit seiner Forderung nach der Aufhebung der atomaren Erstschlagsoption in Verlegenheit gebracht hatte.

Dabei gäbe es einiges zu tun, will man nicht die Tradition der Ära Kohl fortsetzen. Bekannterweise hat die frühere Bonner Koalition mit einschlägigen deutsch-türkischen Geschäften nicht gekleckert: So lieferte MBB im Dezember 1992 allein 33 Kampfflugzeuge vom Typ RF-4E-Phantom, rund 50 Millionen Mark steuert die Bundesregierung bei. 450 Panzer des Typs BTR-60 und BTR-80, die für den Kampf in den Bergen bestens geeignet sind, wurden Anfang 1994 kostenlos an die Türkei abgegeben. Sie waren Teil einer Materialhilfe im Wert von 1,5 Milliarden Mark, die seit 1990 läuft. Im April 1994 lieferte die Friedrichshafener Firma Dornier 212 Stinger-Raketen. Bedenken vom des Außen- oder Verteidigungsministerium gab es nicht. Schließlich könnten die Raketen nicht gegen Bodenziele - also gegen kurdische Dörfer - eingesetzt werden.

Außenminister Klaus Kinkel (FDP) verteidigte Waffenlieferungen an den Bosporus mit "gewaltigen wirtschaftlichen Interessen" der BRD. Im August 1996 übernahm die Bundesregierung eine Hermesbürgschaft in Höhe von 48,8 Millionen Mark für 590 geländegängige Lkws der Firma Mercedes. Als die Grünen im April 1998 eine Anfrage an die Kohl-Regierung richteten, stellte sich heraus, daß weitere Lieferungen für 450 Millionen Mark an die Türkei getätigt worden waren.

Gegen diese Unterstützung hatten Grüne und SPD auf der Oppositionsbank scharf protestiert. Heute positioniert Außenminister Joseph Fischer die Ziele seiner Politik im Spannungsfeld von "Interessen und Prinzipien". Wenn mit Interessen dieselben wirtschaftlichen Vorteile gemeint sind, die Klaus Kinkel im Sinn hatte, wird wenig Platz sein für die Prinzipien, mit denen Fischer auf eine stärkere Gewichtung der Menschenrechte als "eine zentrale Voraussetzung auch für eine freie Marktwirtschaft" anspielt.

Bisher jedenfalls konnte die Türkei als vollwertiges Nato- und assoziiertes WEU-Mitglied auch ohne diese "zentrale Voraussetzung" problemlos am internationalen marktwirtschaftlichen Leben teilnehmen. Weder der inoffizielle Krieg im Osten des Landes noch die Folter politischer Gegner ließen an diesem Status ernsthafte Zweifel aufkommen.

So ist es naheliegend, daß sich die türkische Regierung bislang nicht besonders auf den Menschenrechtsdiskurs einlassen mußte. Jetzt beklagt man am Bosporus die Hürden, die einer EU-Mitgliedschaft in den Weg gelegt werden, als Gängelung durch den Christenklub EU. Als einziges EU-Nichtmitglied, das der europäischen Zollunion angehört und seit den sechziger Jahren ein Handelsabkommen mit Europa hat, zeigt sich die Türkei von den andauernden Zurück- und Zurechtweisungen brüskiert.

Doch im Gegensatz zu früher ist es jetzt aus mit kleinlauten Tönen: Im jüngsten Fall, der Festnahme des PKK-Chefs Abdullah Öcalan in Italien, machte die Türkei ihrem Ärger über Europa lautstark Luft. Die gesamte Welt wurde gewarnt, Öcalan Asyl zu gewähren bzw. Auslieferungsanträge zu stellen. Eine Warnung, die sich vor allem gegen Deutschland richtete. Und sollte es zu einem europäischen Gericht gegen den PKK-Chef kommen, werde dies eine weitere Distanzierung von Europa zur Folge haben.

Diese Abkehr der Türkei vollzieht sich schleichend bereits seit einiger Zeit. Schon mit der Visite der ehemaligen türkischen Minsterpräsidentin Tansu Çiller 1993 in Israel zeichnete sich ab, wo der Staat seine Einflußsphären auszubauen sucht: in der Nachbarschaft. Neben dem Versuch, die kaukasischen Republiken einzubinden, stehen immer auch Drohungen gegen Syrien, Iran und Irak. Ein Rüstungsabkommen mit Israel 1996 und gemeinsame Waffenprojekte seit 1997 sowie Manöver im östlichen Mittelmeer, an denen Anfang des Jahres auch die USA teilgenommen hatte, reihen sich ein in die lange Liste der Waffengeschäfte, die die Türkei mit den beiden Staaten verbindet. Die USA sind nach wie vor der größte Waffenlieferant an die Türkei, Israel zieht allerdings nach.

Von den 150 Milliarden US-Dollar, die für die Modernisierung der türkischen Streitkräfte in den nächsten 25 Jahren vorgesehen sind, konnte Israel sich schon einen Teil sichern: Im Dezember letzten Jahres vereinbarten die Verbündeten im Kampf gegen Iran, Irak und Syrien einen Rüstungsdeal über 200 Millionen US-Dollar. Und Israel Aircraft Industries saniert für 630 Millionen US-Dollar türkische Phantomjäger.

Auch Rußland ist ein Adressat türkischer Waffenwünsche, der an Bedeutung gewinnt, weil die Türkei ihre Rüstungsaufträge als Antwort auf die Ablehnung der EU-Mitgliedschaft nicht mehr an Europa - und vor allem nicht nach Deutschland und Italien - vergeben will. Immerhin: Heckler & Koch wird innerhalb der nächsten zehn Jahre 200 000 hochmoderne Schnellfeuergewehre vom Typ HK33 an die Türkei verkaufen.

Für die deutsche sowie europäische Türkeipolitik, die sich im Double-Bind zwischen wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen sowie dem Anspruch auf die Durchsetzung einer europäischen Interpretation von Menschenrechten gefangen sieht, geht der Eiertanz wohl weiter.