Sind Streiks archaisch?

In Lille diskutierte die französische Gewerkschaft CFDT über eine "neue Verantwortungskultur"

Soviel Zustimmung ist die Chefin der offiziell größten französischen Gewerkschaft nicht gewohnt. 78,8 Prozent der Delegierten bestätigten sie im Führungsgremium, rund drei Viertel segneten ihren Rechenschaftsbericht als Vorsitzende ab und keine einzige Gegenstimme erhob sich bei ihrer Wiederwahl - Nicole Notat, die rechtssozialdemokratische Vorsitzende der CFDT (Confédération fran ç aise démocratique du travail), kann sich derzeit beruhigt zurücklehnen. Sie hat vergangene Woche im nordfranzösischen Lille den 44. Kongreß ihres Gewerkschaftsbunds ohne die kleinste Blessur überstanden.

Auf dem letzten CFDT-Kongreß, im Frühsommer 1995 in Montpellier, hatte die Mehrheit der Delegierten ihren Rechenschaftsbericht für die vorausgegangene Amtsperiode als CFDT-Chefin noch zurückgewiesen. Nur weil sich die linken Oppositionsgruppen prinzipiell nicht auf eine Gegenkandidatur einigen konnte, wurde sie wiedergewählt. Und Ende 1995, als der gesamte öffentliche Dienst streikte, schien die CFDT sogar vor dem Zerbrechen zu stehen: Zeitgleich mit den beginnenden Massenprotesten gegen den "Plan Juppé" des konservativen Premierministers hatte Notat damals ihre Unterstützung für den Regierungsplan verkündet.

Der Plan sah vor, eine staatliche Kontrolle über die Gesundheitskosten einzuführen (was nun auch von der Linksregierung praktiziert wird) und zugleich das hoch verschuldete Sozialversicherungssystem über eine Heraufsetzung des Rentenalters zu finanzieren. Ein Drittel der CFDT-Sektionen in den Départements und einige Branchengewerkschaften, insbesondere die Transportarbeiter, hatten die Streikwelle von Anfang an unterstützt. Die innergewerkschaftlichen Beziehungen waren zum Zerreißen gespannt. Doch heute, drei Jahre später, befindet sich die CFDT-Rechte in einer Stärkeposition wie selten zuvor. Wie kam der Wandel zustande? Eine der Ursachen liegt in der Annäherung zwischen der CFDT und der bisher KP-nahen CGT. Die beiden größten Gewerkschaftsbünde Frankreichs - die CFDT hat 725 000, die CGT knapp 640 000 Mitglieder - verhandeln derzeit öffentlich über ein Kooperationsabkommen.

Hintergrund ist eine Entscheidung des Europäischen Gewerkschaftsbunds EGB in Brüssel, der eine so einflußreiche Organisation wie die CGT nicht ausgrenzen will und daher auf die beiden derzeitigen EGB-Mitgliedsbünde aus Frankreich, CFDT und FO, Druck mit dem Ziel, eine Annäherung an die CGT zu suchen.

Die offizielle Aufnahme der CGT wird voraussichtlich im März 1999 in Brüssel verkündet werden. Das Interesse der früheren KP-Gewerkschaft, auf europäischer Ebene nicht isoliert zu bleiben, ist jedenfalls wichtig genug, ihre Kritik an der CFDT-Politik vorläufig zurückzustellen und deren interne Linksopposition nicht durch ihr eigenes Handeln zu fördern. Die CFDT-Spitze wiederum wird dadurch zusätzlich legitimiert, da nun "sogar die CGT mit uns einverstanden ist".

Die Gewerkschaftsführung ging daher gestärkt in den Kongreß; dennoch kam es in Lille wegen der aktuellen Arbeitslosenproteste zu heftigen Konflikten zwischen Mehrheit und Opposition. Eine Debatte, die nicht ohne Brisanz für die CFDT ist - bekleidet doch Nicole Notat seit 1992 den Vorsitz der von Kapitalseite und Gewerkschaft paritätisch verwalteten Arbeitslosengeldkasse Unedic. Unter ihrer Führung wurde bei der Unedic die Verwaltung der Arbeitslosengelder "effektiviert" - was die Erwerbslosen in diesem Winter, wie schon im letzten Jahr, auf die Straße treibt. Die Gründung einer "Union der Arbeitslosen und Prekären" als Nebenorganisation der CFDT wurde in Lille von 76 Prozent der Delegierten abgeschmettert - die Vertretung der Erwerbslosen sei, so die Mehrheitsmeinung, "natürliche Aufgabe der Gewerkschaften", eigenständige Strukturen brauche es daher nicht.

Schließlich haben die Delegierten mit großer Mehrheit eine Entschließung verabschiedet, die eine "neue Überlegung" für die "Modalitäten der Ausübung des Streikrechts" vorsieht. Dies zielt darauf ab, die Ausübung dieses Rechts zu kanalisieren, beispielsweise durch "Vorwarnmechanismen", eine Voranmeldepflicht für Streiks (die bisher nur im öffentlichen Dienst besteht) oder durch ein "Steuern des Konfliktendes". Da in Frankreich das Streikrecht als individuelles Grundrecht - im Gegensatz zu Deutschland - in der Verfassung verankert ist, kann hier jede Gruppe von zwei oder mehr Beschäftigten einen rechtlich anerkannten Streik durchführen.

Die CFDT möchte eine "Verantwortungskultur" fördern und damit der Gewerkschaft als Vermittlungsinstanz größere Bedeutung verschaffen. Innerhalb des CFDT-Apparats setzt sich immer mehr die Ansicht durch, das Streikrecht sei ein "archaisches, überkommenes Mittel der Konfliktregelung". Vorstöße der CFDT-Minderheit zur innergewerkschaftlichen Demokratie wurden ebenso wie alle anderen Anträge der minoritären Fraktion abgelehnt. Auch ihre Vereinigung "Tous Ensemble" ("Alle zusammen") hatte vor Lille ihre Auflösung für Januar 1999 angekündigt: Zu groß war der Druck auf sie gewesen, keine "CFDT innerhalb der CFDT" zu bilden.

Die CFDT-Führung hatte der Gewerkschaftslinken stillschweigend in Aussicht gestellt, in den künftigen Leitungsgremien vertreten zu sein. Auf der "offiziellen" Liste der Wahlvorschläge war vorab ein Frauenplatz unbesetzt gelassen worden, der es Jacqueline Giraud-Eynaud aus der (oppositionellen) Sektion Provence ermöglichen sollte, via Frauenquote in den Vorstand einzuziehen. Doch die eigene Basis der CFDT-Rechten spielte nicht mit: Ihre Kandidatur scheiterte an knapp 100 fehlenden Stimmen (von 1 800 Delegierten). Der künftige Vorstand wird somit vom rechten Flügel dominiert. Ob auf dieser Basis eine dauerhafte Annäherung an die CGT gelingt, deren Basis zunehmend unzufrieden mit der CFDT-Politik ist, ist daher sehr zweifelhaft.