Du mir einen Fritzen lösen

Eines der weltbesten, anti-deutsch-österreichischsten Hörspiele auf Kassette: Ernst Jandls "die humanisten"

Es wird doch nicht alles immer schlechter. Zum Beispiel Drahtlos-Telefonieren: Das hat's früher nicht gegeben! Eine spürbare Erleichterung. Oder Teriyaki-Sauce. Plötzlich ist alles da! Man rückt zusammen. Etwa kann man jetzt seinen Liebsten wissen lassen, daß das Flugzeug etwas später kommt. Er kann also zu Hause etwas länger tüddeln und noch ein Hühnchen marinieren. Und alles unter einer Nummer, im ganzen Bundesgebiet!

Oder daß es immer mehr Hörbücher gibt: So manches schöne Buch ist jetzt als Kassette erschienen, das kann man auf dem Weg zum Flughafen hören, das erste Kapitel. Die Woche darauf das nächste. Und so weiter, eines nach dem anderen. Hühnchen marinieren in Teriyaki vor sich hin, Geliebte schweben ein, und man zischt über die Müllerstraße und hört ein schönes Buch und ist trotzdem noch erreichbar. Die Buddenbrooks sind am Ende vollständig. Was soll man sagen? Scheiße??? Ja. Denn 21 Jahre sind verstrichen, in denen alles mögliche, auch von Ernst Jandl, auf Tonträgern erschien, nur "die humanisten" nicht. Ist das schon ein Hinweis, daß es das Beste ist? - daß es doch eine Nachwelt gibt? Auf jeden Fall ist dieses Hörspiel eines der weltbesten, anti-deutsch-österreichischsten Hörspiele überhaupt: "die humanisten. konversationsstück in einem akt".

Das Stück appelliert ans kindliche Gemüt, es ist packend, radikal, schonungslos und kurz. Außerdem versteht man es schon beim ersten Mal und würde es dennoch gerne weitere vierzehn Male pro Jahr hören, wenn Besuch da ist oder nicht erscheint. Es inspiriert, ermutigt, erhebt und begeistert. Kommt dabei aber mit ganz simplen Mittel aus, drei menschlichen Stimmen und einem MG.

Zwei Männer treten auf, ein Professor, gesprochen von Jandl, und ein Künstler, gesprochen von Peer Augustinski. Beide sind "Nobelpreisenträger" und verstehen sich, nachdem der Künstler eine Krise als "Hundi" überwunden hat, als Humanisten. "Du nicht sollen Hundi sein! Ich dich befreien." Die meiste Zeit des Stückes sind sie beschäftigt, die Ansichten des anderen vorsichtig zu ergründen und, da sie immer glücklich der gleichen sind, sich mordsmäßig zu bestärken, besonders darin, daß Deutsch die schönste Sprache und Österreich das beste Vaterland ist. Die anderen Bereiche, in denen sie totale Übereinstimmung feststellen, sind Todesstrafe, Terroristen, Christentum, Parteizugehörigkeit, Abtreibung, Mode-Literatur ("seien Kulturenschanden"), Nazenputzen, Puff ("Puff denken sein scharf Denken, sein gut Denken"), usw.

"die humanisten" kommt aber nicht nur mit geringen Mitteln, sondern auch noch mit wenig Handlung aus. Zweimal taucht kurz eine Frau auf, einmal streiten sich die Herren, versöhnen sich gleich wieder, und am Schluß werden sie abgeknallt. Ansonsten sind sie die meiste Zeit einfach nur unter sich, allein mit ihren identischen Ansichten. Das muß langweilig sein, oder? Ein Stück mit diesen Themen? Das nicht für einen Satz Handlung bietet? Es gibt keine zehn Hörspiele, die so anregend sind wie "die humanisten", nur acht. Seine Spannung speist sich aus dem seltsamen Idiom, in dem der Dialog der Akteure verfaßt ist, und aus der Interpretation, die Jandl, Augustinski und Eva Garg gelang. Zur Sprache: Verben existieren nur in der Infinitivform, "Ich sehen einen Frauen"; Substantive werden nach Assonanzen abgewandelt, "Hier Platz für Witzenschaften! Nicht Schwangenschaften!" Umlaute werden meistens weggelassen, "Deutsch Sprach schutzen!", allerdings nicht prinzipiell: "Du mir einen Fritzen lösen!" Die Brutalität in der geistigen Welt der beiden Herren entfaltet sich nicht kontrastiv in langen Perioden und geschwungener Rede.

Abgesehen von dem Ehrgeiz, keinen Witz auszulassen, herrscht größte Einfalt, wenn "Kapazitäten von Witzenschaften" und "Kunstler" mit Pathos ihre Ansichten deklamieren, Regression auf ganzer Linie, vielfache Wiederholungen mit Akzentverschiebungen inbegriffen. Im Hörspielschaffen von Jandl steht das Stück in seiner Boshaftigkeit ganz einzigartig da. Das Albern - oft versucht - findet nirgendwo zu so hoher Form und solch erbaulichen Zwecken.

Lange bevor die Selbstbestätigung der beiden Männer langweilig werden könnte, taucht aus dem Hintergrund eine Frau auf. Sie nähert sich ihnen mit dem Satz "Ein Kindlein ich kriegen", den sie monoton und mit über die Zähne gezogenen Lippen wiederholt. "Du mir einen Fritzen lösen", fordert sie den Professor auf. Der schickt sie jedoch weg, und beide verdammen die Frau: Du nicht sollen töten! Wieder unter sich und allein mit ihren Meinungen, verständigen sie sich schnell über die Forderung, Abtreibung unter Todesstrafe zu stellen. Der Kunstler putzt seine Nase. Nazenputzen in Tazentuch: "sein Kulturenleistungen". Aber da ist Blut in Tazentuch. Woher das Blut? Der Professor: Blut von Nazen kommen, Nazen von Stirn kommen, Stirn von Kopf ... usw. Beim Kosmos angelangt, weiß er nicht mehr weiter. Günstige Gelegenheit für den Künstler, dem Wissenschaftler eins reinzudrücken. Aus dem Nichts ist der Konflikt da, in dem beide sehr schnell handgreiflich werden und abwechselnd Fußentritten und Kopfenstücken verteilen. Kaum daß sie sich geprügelt haben, versöhnen sie sich mit großer Geste wieder. Du Bruderen, ich Bruderen, Handeln schutteln. Erst gestern, am 22. 12., soll passenderweise der Deutschlandfunk das Stück in seinem Abendprogramm wiederholt haben. Ein Ärger! Doch die Lage hat sich spürbar gebessert. Für nur 35 DM kann jeder "die humanisten" jederzeit jedem von einer CD vorführen und immer wieder hören und gespannte Ruhe haben in seinem Kabuff für 26 Minuten 55 (eine Mark dreißig pro Minute). In der Küche nimmt man sich in Ruhe der Zuckerschoten an. Dem kleinen bayerischen Gertraud-Scholz-Verlag sei Dank.

Anfang 1976 war Jandl eingeladen worden, einen Einakter für eine Theateraufführung beim "steirischen herbst" zu verfassen, berichtet das CD-Faltblatt. Zwischen dem 10. und 20. April schrieb er das Manuskript, am 29. April lieferte er ab. 1977 entstand die Hörspiel-Fassung, die Jandl als Interpret und Regisseur für den WDR herstellte. Wer danach noch wagt, "die humanisten" im Theater aufzuführen, ist selber schuld. Zum Beweis dessen und wie vorteilhaft Hörspiel-CDs überhaupt sind - Unabhängigkeit vom Theaterensemble, seinem Tagesformtief, den blassen Gesichtern, d. h. ungetrübter Genuß selbst bei Rot auf der Müllerstraße / Ecke Transvaal - zum Beweis, welchen Anteil an Meisterwerken die Interpretationskunst haben kann, liefert die CD die Aufzeichnung einer Theateraufführung in Wien durch die "Gruppe 80" zu Silvester 1997 gleich mit. Das ist wirklich sehr brauchbar. Alles, was man von dieser Aufführung hören kann, läßt die vom Autor vorgenommene Interpretation noch glänzender erscheinen, es wurde nämlich die ultimative Form gefunden, wieso sich mit weniger zufrieden geben!

Während die Theaterschauspieler dem Text auch schon mal ein undiszipliniertes "äh" oder "em" zusetzen, das Natürlichkeit der Sprechsituation suggerieren soll, aber in Wirklichkeit nur Unverständnis des Textes zeigt, Ungenauigkeit oder übermäßige Gier, zusätzliche Lacher rauszuschinden, herrscht bei Jandl völlige Reduktion. Ernst, sachlich und streng wird nur der Text gebracht, sonst nichts. Natürlich hat das Theaterpublikum seinen Spaß, das ist zu hören. Aber erst Jandls karge Interpretation läßt die Boshaftigkeit des Textes, seine politisch-ästhetische Radikalität, erscheinen, seine Kraft, die in der Theateraufführung von Witzigkeiten und Herumgekasper geschwächt wird. Die Theaterleute sind schlichtweg nicht so präzise wie Jandl, der aber auch wirklich extrem präzise ist.

Es gibt auf einer früheren CD von ihm einen Werkstattbericht, wie er für den BR sein Hörspiel "szenen aus dem wirklichen leben" (nicht so empfehlenswert) inszeniert. Da ist zu hören, wie er den Schauspielern das Singen beibringt. Jedes Wort ist mit einem bestimmten Ton oder Tonverlauf zu intonieren, verstanden? Sie müssen haargenau alles nachmachen, - wie Chinesisch, was man auch nicht versteht, wenn der Ton nicht stimmt.

Superpräzise! Selbst die Länge jeder einzelnen Silbe ist festgelegt. Das müssen die nachsingen. Und wenn sie falsch singen, den Ton nicht treffen, zu lange halten oder absacken, macht Jandl es noch einmal vor. Besonders mit den Notenwerten haben die Schauspieler Schwierigkeiten. Sie können die Wörter nicht lange genug halten, sie haben, mit der Gitarre gesprochen, nicht genug Sustain.

Jandl ist zu Recht einer der ersten Autoren gewesen, die überhaupt auf Tonträgern flächendeckend verbreitet wurden. Das empfiehlt sich, weil er die Sprache musikalisch behandelt. Und populär ist er auch, sehr witzig. Außerdem stellt er eine jener seltenen Personalunionen von Autor und Interpret vor: Dieser Schreiber ist auch sein bester Sprecher. Wenn Tausende von Stücken in der Hörspielgeschichte einfach verschwinden, dann aber doch mal was hängenbleibt, stecken auffällig häufig solche Vereine dahinter wie der Jandl, also Autoren, die sich in die Realisation ihrer Ideen einmischen. Ror Wolf ist ein weiteres bekanntes Beispiel. Hoffentlich können wir nächstes Jahr an dieser Stelle "Die überzeugenden Vorteile des Abends" und "Der Chinese am Fenster" vorstellen. Das sind Teil II und I der Trilogie "Auf der Suche nach Doktor Q".

"die humanisten". Hörspiel von Ernst Jandl. Mit Ernst Jandl, Peer Augustinski und Eva Garg. Regie: Jandl. Länge: 26'55'' Produktion: WDR 1977. Gertraud Scholz-Verlag, Obermichelbach 1998, DM 35