Ein Volk versöhnt sich

Klaus Naumanns Studie "Das Jahr 1945 im kulturellen Gedächtnis der Presse"

Spätestens die von Martin Walser losgetretene Debatte um das Gedenken hat gezeigt, daß sich in Deutschland ein neuer geschichtspolitischer Diskurs durchsetzt, und die Analyse seiner Genese und seiner Strukturen wäre ein entscheidender Beitrag zur Kritik der aktuellen deutschen Ideologie. Es ist deshalb erfreulich, daß sich eine ausführliche Studie den Gedenkdiskursen des Jahres 1995 zuwendet, denn diesem Jahr kommt hierbei eine entscheidende Bedeutung zu.

Klaus Naumann hat dafür mehrere hundert Zeitungen und Zeitschriften ausgewertet und so eine Fülle von Material zusammengetragen. Seine unter dem Titel "Der Krieg als Text. Das Jahr 1945 im kulturellen Gedächtnis der Presse" erschienene Untersuchung beschränkt sich nicht auf die meinungsführenden Medien, sondern beschäftigt sich vor allem mit Beiträgen, die in der Regionalpresse erschienen sind.

Dabei verfolgt er den Gedenkdiskurs anhand von sechs zentralen Ereigniskomplexen, die die Fixpunkte des Gedenkens im Jahr 1995 bildeten: die alliierten Bombenangriffe auf deutsche Städte, die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, die Befreiung der Konzentrationslager, die Rolle der Wehrmacht, das Kriegsende an lokalen Schauplätzen und das Ende des Krieges am 8. Mai. Das eigentliche Problem ist jedoch ein anderes, und es deutet sich bereits im sprachlichen Stil an. In den interpretativen Teilen der Studie reiht Naumann lediglich eine Frage an die andere, Fragen, auf deren Antworten der Leser vergeblich wartet: Naumann drückt sich um die Interpretation seiner Befunde.

Dabei drängt sich bei der Sichtung des zusammengetragenen Materials der Schluß förmlich auf, daß es beim Gedenken um die Rekonstruktion der nationalen Gemeinschaft ging. So etwa, wenn die Deutschen im Erleiden des Bombenkrieges und der Bewältigung seiner Folgen zusammenrücken. Naumann scheint von Begriff und Sache des völkischen Nationalismus noch nichts gehört zu haben, sonst müßte er dieses Phänomen, das ihm aus seiner Studie geradezu entgegenquillt, wenigstens einmal beim Namen nennen.

Statt dessen entpolitisiert Naumann sein Thema und versucht, sich mit soziologischen Thesen zu behelfen. Als zentrales Ergebnis wird dann beispielsweise der Übergang vom "kommunikativen" zum "kulturellen Gedächtnis" ausgegeben. Wenn damit gemeint ist, daß die unmittelbar beteiligten Personen durch den generativen Wechsel von gesellschaftlichen Institutionen und Gruppen als Träger des Gedenkens abgelöst werden - und es ist damit gemeint -, dann ist dies eine vollständige Banalität.

Es sei diese Weigerung, Schlüsse zu ziehen, am zentralen Kapitel über den 8. Mai veranschaulicht. Naumann betont zunächst die Bedeutung der Ereignisse des Jahres 1984 für den geschichtspolitischen Diskurs zehn Jahre später, insbesondere der Rede des damaligen Bundespräsidenten Weizsäcker. Mit wünschenswerter Klarheit benennt er den Subtext dieser Rede: "Aus der populären Amalgamierung der beiden Stichworte 'Befreiung' und 'Erlösung' konnte man die freundliche Version eines 'Schlußstrichs' heraushören: Wenn sich die Erinnerung an das Kriegsende als 'Befreiung' buchstabieren ließe, winkten dann möglicherweise 'Versöhnung' und 'Erlösung'?" Anstatt darin aber ein Modell für das Jahr 1995 zu erkennen, zieht Naumann den windelweichen Schluß, daß "ein selbstverständlicher Kanon diskursiver wie ritueller Praktiken des nationalen Gedenkens" nicht zur Verfügung gestanden habe.

Naumann verfolgt im weiteren die Bemühungen der Deutschen, sich im Rahmen des internationalen Gedenkens an das Kriegsende nicht nur als "Gleiche unter Gleichen" zu präsentieren, sondern sich auf die Seite der Sieger zu plazieren. So wird etwa das Mindener Tagblatt zitiert, das von der Teilnahme der großen Fünf "an der Gedenkveranstaltung in der russischen Hauptstadt" spricht. Auch Herzogs Formel, daß der 8. Mai 1945 "ein Tor zur Zukunft aufgestoßen" habe, weist in diese Richtung. Obgleich hier eine vollständige Revidierung des Kriegsergebnisses erfolgt, zieht Naumann daraus das positives Resümee: "Generell verließen die großen europäischen Gedenkfeiern des Kriegsendes die nationale Engführung und entwickelten sich zu internationalen Ereignissen. Eine neue Rhetorik wurde erprobt, deren Kennzeichen die Achtung der gegenseitigen Gefühle war."

Das von Naumann zusammengetragene Material böte die Möglichkeit, einmal genauer über den Charakter des derzeitigen geschichtspolitischen Diskurses nachzudenken, zeigt sich daran doch, wie sehr die Gedenkdiskurse um die Konstruktion einer deutschen WirGemeinschaft kreisen und wie diese Konstruktion gerade im Gedenken gründet. Es scheint, daß das gemeinsame Gedenken eine tragfähigere Grundlage nationaler Identität abgibt als das kollektive Verschweigen. Anstatt einer "negativen Identität", wie der Vorwurf in der taz lautete, bietet der Nationalsozialismus plötzlich wieder eine positive Identität.

Gleichzeitig ermöglicht das Gedenken eine neue Form des Schlußstrichs. Denn wenn der Nationalsozialismus nur mehr als Geschichte und als Gedenken thematisiert wird, dann läßt er sich so unbefangen betrachten wie jede andere Geschichte auch, eben historisierend. Vor allem aber wird die Gegenwart von der Vergangenheit abgekoppelt. Je mehr in dieser Form gedacht wird, desto weniger Konsequenzen müssen aus dem Gedenken gezogen werden.

Klaus Naumann: Der Krieg als Text. Das Jahr 1945 im kulturellen Gedächtnis der Presse. Hamburger Edition, Hamburg 1998. 353 S., DM 48