Wildfremde Männer aus Ghana

Na, Sie?! - Immer wenn Kathi-Gesa Klafke und Monika Maron im Ausland angesprochen werden, verstehen sie "Nazi".

Kathi-Gesa Klafke hatte neulich ein paar Fragen: "Warum werde ich in meinem deutschen Auto auf holländischen Autobahnen abgedrängt, wieso gibt es in den Geschäften Scheveningens keine Toilette, wenn ich frage, aber für meine englische Freundin plötzlich doch? Wieso werde ich in England und Frankreich von meiner Generation als Nazi beschimpft, sobald man meinen Personalausweis sieht? Weshalb schlägt mich ein farbiger Ladendieb nach seiner Entdeckung zusammen, bezeichnet die zur Hilfe eilenden Kundinnen als Rassisten und fordert eine Entschuldigung, nachdem er uns die fünf geklauten Uhren auf den Tresen schleudert? Warum können amerikanische Hollywood-Stars wie Dustin Hoffman Zeitungsanzeigen unterschreiben, in denen Deutschland als Nazi-Land beschimpft wird, weil der deutsche Verfassungsschutz gegen die Sekte Scientology ermittelt? Weshalb bekomme ich Briefe von wildfremden Männern aus Ghana, deren erster Satz regelmäßig lautet, man verzeihe mir meine Vergangenheit, aber dafür solle ich eine Rolex (Stereoanlage, Geld ...) schicken?"

Warum, wieso, weshalb all das? Nun: "Das ist absurd und Rassismus. Und das ist nichts anderes als die Instrumentalisierung von Auschwitz."

Sicherlich hätten sich die Fragen - eine solide psychiatrische Betreuung vorausgesetzt - auch anders beantworten lassen, aber dann wäre das Publikum um ein hübsches Dokument betrogen worden. Frau Klafke hat nämlich ihre Fragen und Antworten für den Spiegel (53/1998) niedergeschrieben. Unter dem Titel "Eine deutsche Studentin wehrt sich gegen Schuldzuweisung" antwortet die "nichtjüdische Jura-Studentin" auf das, was drei "jüdische Studenten", drei Wochen zuvor im Spiegel über die Walser-Bubis Debatte gesagt hatten.

Martin Walsers Erkenntnis, Auschwitz werde als "Moralkeule" gegen die Deutschen benutzt, liest sich bei Frau Klafke so: "Ich käme auch nicht auf den Gedanken, irgendeinen heute lebenden Juden für die Kreuzigung Christi verantwortlich zu machen. Ach, das war jetzt wahrscheinlich eine antisemitische Äußerung - aber wer seine Mitmenschen mit dieser Keule mundtot macht, darf nicht gleichzeitig klagen, es fände keine öffentliche Debatte statt." Äußerungen, die formal und inhaltlich andeuten, daß der hiesigen Rechtswissenschaft eine glänzende Zukunft bevorsteht.

Bemerkenswert ist Klafkes Aufsatz, weil er den jungen deutschen Antisemitismus demonstrativ unbefangen und forsch so formuliert, wie er nach dem Kontakt mit 68er-Sozialkunde und One-World-Bewegung sein muß: "Von mir aus laßt Religion Religion sein und uns endlich dazu übergehen, den Holocaust in die Geschichte neben die Vernichtung der Indianer, Sklavenhandel, Leibeigenschaft, Gulag, Kolonisierung, Christenverfolgung, Inquisition, Kreuzzüge einzureihen, damit alle daraus lernen können. Bislang ziehen sich Nichtdeutsche auf ihr Ruhekissen zurück, es ist ja so bequem, die Deutschen zu verteufeln."

Auch das differenzierte Denken ist dem jungen Antisemitismus geläufig: "Das beginnt schon damit, daß es für mich nicht 'die Juden', 'die Christen', 'die Atheisten', 'die Deutschen', 'die Täter' oder 'die Opfer' gibt. Denn es handelt sich dabei nicht um abgrenzbare Gruppen."

Deshalb sollten wir "endlich von diesem Schubladendenken Abstand nehmen": "Es sind auch andere Menschen verfolgt worden als Juden, es haben nicht alle Nichtjuden Juden ermordet, und schließlich waren auch nicht alle Juden unschuldig. Es haben auch Juden Verrat begangen. Und genau deshalb sprach mir Dohnanyi aus der Seele, als er fragte, wie sich die Juden verhalten hätten, wären sie nicht Opfer gewesen."

In einem Punkt aber gleichen die jungen Judenkritiker ihren Großeltern: "Würde Herr Bubis nicht so darauf bestehen, Juden hätten nicht ein über das Maß herausragendes Gewinnstreben, hätte ich Geld nicht mit dem Judentum in Verbindung gebracht."

Klafkes Text - "da ich Sippenhaft ablehne, bin ich der Prototyp des Nichtantisemiten" - zeigt, daß Walsers Anliegen keineswegs von rechtsaußen, sondern aus der Mitte der Gesellschaft kommen. Und es ist gerade die unbeabsichtigt-exemplarische Vulgarisierung der Friedenspreisrede, die deutlich macht, daß es in der ganzen Debatte nicht um Erinnerung geht, sondern um ein historisch bekanntes spezifisch deutsches Unbehagen, das nicht zuletzt durch die jüngeren Forderungen nach Entschädigung für ehemalige jüdische Zwangsarbeiter neu geweckt wurde. Während diese Forderungen die neue Regierung offiziell nicht beeindruckten, wissen sich deren Untertanen angesprochen: Sie gehen zur Offensive über und artikulieren alle Ressentiments, die sie schon immer mit sich herumtrugen. Was Walser salonfähig vorbrachte, schlägt dann in Verfolgungswahn um.

Monika Maron, Tochter eines ehemaligen DDR-Ministers und als dissidente Schriftstellerin seinerzeit unglücklicherweise in den Westen wechselnd, als die Mauer ohnehin geöffnet wurde, hat jetzt dem französischen Magazin Le Point ein Interview gewährt. "Ich finde es unerträglich, daß die Nachbarländer uns gegenüber stets eine Haltung des Mißtrauens einnehmen. Alle Länder der Welt erlauben es sich, die Deutschen zu beleidigen, ich frage mich manchmal, ob wir nicht völlig verrückt sind, daß wir uns nicht zu wehren wagen." Zum Beispiel? "Nehmen Sie meinen Sohn, der bald 30 wird. Welche Rolle haben die jungen Leute dieser Generation in der Tragödie des Nazismus gespielt? Überhaupt keine. Trotzdem werden unsere Kinder, wenn sie in den Urlaub fahren, nach New York oder anderswohin, immer noch als Nazis beschimpft." Die Frage nach dem letzten Deutsche-Raus-Riot auf Mallorca oder den Malediven würde sich, wer so redet, verbitten und sicherlich darauf verweisen, daß die Feinde der Deutschen im Verborgenen arbeiten.

Was Maron, Klafke und die ganze neue Mitte mit Walser eint, ist die Sehnsucht, einer "normalen" Nation anzugehören. "Das Konzept von Nation", so Maron, "stellt für uns immer noch ein Problem dar. Die Deutschen haben Schwierigkeiten damit, auf ihr Land stolz zu sein. Ich finde es zum Beispiel suspekt, daß manche Deutsche bei einem Fußballspiel im Fernsehen die Gegenmannschaft unterstützen." Klafke sagt es knapper: "Keine andere Nation hat so wenig nationale Identität wie die deutsche."

Hier aber gerät das Alltagsbewußtsein der neuen Mitte in ein Dilemma. Vorsichtig ausgedrückt: Jede tatsächliche oder phantasierte Identität hat etwas mit Geschichte zu tun, die neue Mitte aber kennt die deutsche Geschichte nur als fremde Zumutung. "Hört endlich auf, Täter zu benennen, die keine sind". "An Erbsünde glaube ich nicht". "Sowenig wie alle Deutsche christlichen Glaubens pauschal Täter sind, sind alle Deutschen jüdischen Gaubens unfehlbar" - so die Jurastudentin Klafke im Spiegel. Ähnlich Monika Maron: "Niemand kann von einem Deutschen verlangen, daß er die Verantwortung für die Verbrechen seiner Großeltern trägt. Es gibt keine Erbschuld."

In der fast zur Raserei gesteigerten Verteidigung gegen Anschuldigungen, die niemand erhoben hat, scheint eine bewußtlose Verzweiflung auf: Man will eine normalisierte nationale Identität, spürt aber, daß die deutsche Geschichte so etwas nicht hergibt; kurz: mit der deutschen Geschichte gibt es keine normale Identität, ohne Geschichte gibt es gar keine Identität - bzw. das, was gemeinhin als Identität halluziniert wird. Und so strandet die Suche nach dem Selbst bei einem Bewußtsein, das nicht viel hermacht: "Wir erleben einen antideutschen Rassismus", sagt Monika Maron, und Frau Klafke sagt es auch: "Die deutsche Geschichte wird benutzt. Von viel zu vielen Menschen, die sich damit selbst nur als Rassisten outen."

Im Status des Rassismus-Opfers aber wird der Mainstream zur marginalisierten Widerstandsgruppe. Als Monika Maron, in der Zeit Martin Walser verteidigte, konnte sie gar auf Formulierungen aus ihrer Dissidentenzeit unter Honecker zurückgreifen: "Warum? Wo lebe ich, daß ich mich fürchte zu sagen, was ich denke?" Sie lebt, glaube ich, in Berlin.