Anatomie eines Vatermordes

Warum wir den Austro-Amerikaner Otto Preminger nicht mochten und warum wir uns heute fragen, ob wir ihn nicht doch mögen sollen: Zur Retrospektive der Berlinale.

Otto Preminger, Wiener, Dr. iur., Schauspieler, 1934 in die USA emigriert, Regisseur, in den fünfziger Jahren in heftigem Clinch mit der US-Zensur - eigentlich hätte er mein Mann sein müssen, wenn ich ihn jetzt wieder sehe, in seinem Film "Sturm über Washington" (1962). Hatte er nicht damals, als wir in der Zeitschrift Filmkritik zu schreiben anfingen, den "River of No Return" gedreht?

Marilyn Monroe singt auf der breiten Leinwand "One Silver Dollar", 1954, und 1999 immer noch, monatlich im Fernsehen, wenn auch im Kleinformat. Aber für uns war die Beziehung zu Preminger total gestört in eben diesen fünfziger und auch den sechziger Jahren. Einer, der Ammenmärchen verbreitete, dessen Filme die Note "Schlecht" bekamen. "Man hat wohl Anlaß, dem bloß handwerklichen Talent zu mißtrauen", warnte die Filmkritik 1959 vor "Anatomie eines Mordes", der freilich posthum als Premingers bester Film gilt.

Preminger war für uns damals die falsche Generation. Ein Vater. "Der überall nach einem Sowohl-als-auch sucht" (Filmkritik zu "Morgen ist ein neuer Tag"). Und das war in der Zeit der klaren politischen Bekenntnisse, des Entweder-oder, nicht korrekt, eben falsch. Die Beziehungskrise entwickelte sich jedoch in eine völlig unvorhergesehene Richtung, als wir in Deutschland mitbekamen, daß sich die Altersgenossen Rivette und Truffaut in Paris, die ja als Filmkritiker in den Cahiers du Cinéma angefangen hatten, zu Preminger-Fans erklärten. "Der Sieg der Erzählweise über das Erzählte, der Inszenierung über das Drehbuch", jubelte Rivette über Premingers "Angel Face" von 1952, und subversiv sollte unser geschmähter Papa auch gewesen sein. Dagegen hatte Ulrich Gregor, der heute das Forum des Jungen Films bei den Berliner Filmfestspielen leitet, vor vierzig Jahren moniert: "Was dem Werk Premingers vor allem fehlt, ist eine originale filmische Konzeption der wesentlichen Szenen" ("Die heilige Johanna"). Wir sind inzwischen selbst alte Papas.

Die Retrospektive Otto Premingers bietet dieses Jahr während der Filmfestspiele die willkommene Gelegenheit, den "verdächtigen" Preminger (ja, das war ich, 1958, zu "Bonjour Tristesse"), den verehrten Meister also eventuell, zu rehabilitieren. Oder auch nicht. Das letzte Wort scheint nicht gesprochen. Es hilft nur, hinzugehen und hinzugucken. Premingers Werk hat in Deutschland Rezeptionsgeschichte gemacht. Und die ist möglicherweise noch nicht zu Ende. Hat Heinz Ungureit, der zum Filmpapst der ARD avancierte, damals, 1963, Premingers "Kardinal" als "langweilig" abqualifiziert, weil nicht nur Nazisympathisant Kardinal Innitzer, sondern auch Regisseur Preminger das Falsche tat? Geschäftsmann Preminger, so hält Ungureit ihm vor, habe sich vom Papst einen - gekauften - Orden verleihen lassen; auch habe Preminger zuvor dem Papstkritiker Rolf Hochhuth beleidigenderweise vorgeworfen, sein Bühnenstück, den "Stellvertreter", "in östlichem Auftrag" geschrieben zu haben.

Ich weiß nicht, wie damals das Gericht im Rechtsstreit Hochhuth vs. Preminger entschieden hat. Ich weiß nicht, wie der Zuschauer heute über den Film befindet. Langweilt er sich, Rivettes & Truffauts ungeachtet? Oder kann einem das völlig egal sein, weil es sich beim "Kardinal" schlicht um eine populärkulturelle "unterhaltsame Bestsellerverfilmung" handelt, wenn man dem katholischen Lexikon des internationalen Films glauben will.

Zum Urteil "Unterhaltsam" war die Filmkritik im Laufe der sechziger Jahre dann allerdings doch selbst gekommen. Enno Patalas, später Direktor des Münchner Filmmuseums, hatte 1959 noch bemängelt, daß Preminger "kein Interpret der Wirklichkeit" sei ("Anatomie eines Mordes"). Sieben Jahre später rückte dann in unser Blickfeld, daß Preminger uns in einem Film wie "Bunny Lake ist verschwunden" sehr elegant, sehr gekonnt, aber immerhin an der Nase herumgeführt hatte.

Der Film spielt nicht mit der objektiven Wirklichkeit, sondern mit unseren Sehweisen und unseren fest eingefahrenen Vorstellungen. "Hollywood at her best", urteilte Patalas 1966, "ein Kino, das die falsche Vertrautheit mit den Dingen, die es selbst hergestellt hat, benutzen kann, um ein Gefühl abgründiger Unvertrautheit zu erzeugen".

Der Blick auf Premingers Werk wechselte, und die Rezeptionsgeschichte kam in unserer Zeitschrift heftig ins Schlingern. Als 1973 der "River of No Return" wieder zu sehen war, 20 Jahre danach, geriet Wolf-Eckart Bühler angesichts dieses "wienerisch opulenten Western" in Euphorie. Der Preminger-Film bekam die Note "Vorzüglich", denn neben der Monroe spielt Bob Mitchum mit, der "wie in beinahe jedem seiner Filme eine kleine Vergewaltigung im Sinn hat". - Vorzüglich war der Film, in dem es um die Vorstellung ging, die der Zuschauer sich von der Monroe macht - und um die von Mitchum. Preminger, ein Interpret der Zuschauer-Sicht?

Gehen wir noch einen Schritt weiter. Hat Preminger die Unverschämtheit, mit der politischen Sicht des Zuschauers zu spielen? Wie sonst erlaubt er sich die Frechheit, im Politik-Film "Sturm über Washington" (1962) Charles Laughton, den solidarischen und engagierten Mitstreiter unserer Identifikationsfigur im Film, mit den ahistorischen Zügen des realen reaktionären McCarthy auszustatten? Was ist das für ein böses Spiel mit uns, daß wir uns jetzt mit den Mitteln von Demagogie und Hexenjagd befreunden sollen? Sollen wir das jetzt gut finden, daß eine schwule Jugendaffäre ausgegraben wird, um den Gegner damit zu erledigen?

Und, mal ehrlich, hätte Sie das denn nicht doch gejuckt, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, daß Clinton-Ankläger Starr vor Jahrzehnten eine stockschwule Phase hatte, wenn's denn so gewesen wäre? - Der Plot von "Sturm über Washington" ("Advise and Consent") kommt uns heute seltsam vertraut vor. Präsident Franklin D. Roosevelt will die Zustimmung des Senats für einen neuen Außenminister, der die USA gegenüber der Sowjetunion ein wenig öffnen soll. Der Kandidat (Henry Fonda) leistet vor dem Ausschuß leider einen Meineid. Er verschweigt eine intellektuelle Jugendsünde, nämlich als Student einer kommunistischen Zelle angehört zu haben. Wie kommt er da raus? Na klar doch, dem Ausschußvorsitzenden eine sexuelle Jugendsünde anhängen. Dazu braucht er Charles Laughton usw.

All das ist historische Wahrheit, bestens verbraten in einem stockreaktionären Tatsachenroman, der zu deutsch "Macht und Recht" heißt. Der Verfasser, Journalist der New York Times und Roosevelt-Hasser, sah durch die Verfilmung seinen Fakten übel mitgespielt und seine Generalperspektive ganz verdreht. Im Film war die literarische Vorlage mitnichten reaktionär. Die Vorzeichen hatten gewechselt. Allerdings auch die Vorzeichen, die wir an Demagogen und Sexschnüffler vergeben hatten.

Die Filmkritik riet damals dem Regisseur Preminger, der "gewichtige historische Tatsachen schlicht in ihr Gegenteil verkehrt", er "sollte - zum Nutzen der Demokratie - die Finger davon lassen". Ein "schlechter" Film, war der zeitgenössische Konsens. Ich hoffe sehr, daß "Sturm über Washington" in der Retrospektive 1999 dabei ist.

Ich weiß aber immer noch nicht, ob Preminger mein Mann ist. Wetten, daß der Pro-Vietnamkriegsfilm "Erster Sieg" ("In Harm's Way") in der Jubel-Rückschau fehlt! 1965 lieferte Preminger ein Heldenepos ab, das John Wayne im Kampf gegen den bösen Feind ein filmisches Denkmal setzt. Zwar geht es seltsam verspätet um die tückischen Japaner, aber man hat ja vom Spiel mit den Vorstellungen gelernt: "Man ersetze die Japaner durch Vietcongs und Tokio durch Hanoi", und was haben wir? Premingers "perfide Wehrertüchtigungsversuche". Ja, das ist in der Tat "ärgerlich", und dann muß eben der brave "Handwerker" rausgeholt werden, um unserem "Austroamerikaner" aus der Patsche zu helfen.

Als Preminger, 79jährig, 1986 starb, hatte er 37 Filme gedreht, die fünfziger Jahre-Filme "Der Mann mit dem goldenen Arm", "Carmen Jones" und "Porgy und Bess" nicht zu vergessen. Heute wird das Vorzeichen vor dem "Handwerk" umgedreht; wir bewundern die Kunst seiner Inszenierung; Anfang der dreißiger Jahre war er in Wien Theater-Regisseur und -Direktor gewesen (Reinhardts Theater an der Josephstadt), und deswegen gibt es jetzt, dreißig Jahre danach, den Kick in "Anatomie eines Mordes", "wo das Recht nie eine Frage der Tatsachen ist, sondern bloß der dramatischsten Show" (epd Film). Wer das nicht mag, halte den Mund, denn "wieso nur müssen hierzulande so viele Leute über das Kino schreiben, das sie nicht mögen. Und worüber sie die Literatur nicht kennen", bemerkt Norbert Grob zur Preminger-Rezeption.

Ich habe mich hier bemüht, möglichst viel zu zitieren. Fußnoten können auf Anfrage nachgeliefert werden (dKuhlbrodt@compuserve.com), ich will nichts falsch machen, denn Preminger ist ja ein Held, der es "wagt, einen Kristall zu schleifen, Transparenz den ambigen Reflexen, den scharfen Kanten zu geben, gewisse unerhörte und seltene Akkorde hörbar zu machen; die unerklärliche Schönheit der Modulation rechtfertigt plötzlich die Gesamtheit des Satzes", dekretiert Jacques Rivette ("Johanna - die Jungfrau"), und der ist ohnehin der Größte. Die unerklärliche Plötzlichkeit, mit der Premingers Schauspielerinnen ziemlich unharmonisch ihr Leben beendeten, rechtfertigt für sich genommen jedoch keineswegs das Lebenswerk des Wiener Meisters.

Wir gedenken: Marilyn Monroe, Jean Seberg, Romy Schneider, Linda Darnell ("Fallen Angel", 1945, "Amber, die große Kurtisane", 1947), Maggie McNamara ("Wolken sind überall", 1953) und Patricia Neal; im Weißen Haus hatte sie noch eine Rede an den amtierenden Präsidenten Ronald Reagan gehalten, ein Filmpatriot wie Kollege John Wayne in "Erster Sieg". Dann wechselte zum letztenmal das Vorzeichen: Ende.