Fischer in der Bagdadbahn

Die geostrategische Bedeutung der Türkei für die Bundesrepublik Deutschland und die Nato

Kontinuität in der deutschen Außenpolitik hat Joseph Fischer bei seinem Amtsantritt versprochen. Daß Fischer Wort hält, beweist seine Haltung des Auswärtigen Amtes gegenüber der Türkei: Die Bundesregierung, so antwortete Fischers Behörde auf eine Anfrage der PDS, sei "der Auffassung, daß die Türkei die Bekämpfung des Terrorismus unter Beachtung der Menschenrechte und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit führen muß". Weiter heißt es in dem Papier: "Nur die Türkei selbst kann die Probleme im Südosten lösen. Die Bundesregierung sieht hieran ein dringendes Interesse und ist bereit, jede ihr mögliche Unterstützung zu leisten."

Das Verständnis der rot-grünen Reformregierung, die selbst vor einer Übernahme der regierungsoffiziellen türkischen Vokabel "Terrorismus" für den Bürgerkrieg in Kurdistan nicht mehr zurückschreckt, ist keinesfalls uneigennützig. Kontinuität in der deutschen Außenpolitik, das bedeutet im Fall der Türkei vor allem: Die Verteidigung geostrategischer Interessen der Bundesrepublik im Nahen und Mittleren Osten.

Die hohen Erwartungen der deutschen Politik hat Fischers Vorgänger Kinkel schon 1992 beschrieben: "Es ist so, daß die Türkei eine hohe strategische, politische, wirtschaftliche, kulturelle Bedeutung hat, insbesondere nach dem Wegfall des Ost-West-Konfliktes.(...) Die Türkei gewinnt eine Brückenfunktion an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien, zwischen Christentum und Islam."

Genauer als Kinkel hat Lothar Rühl, ehemaliger Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, 1992 die Interessen der Nato und der EU an einem stabilen türkischen Staat definiert. In der Zeitschrift Europa-Archiv nannte Rühl im November 1992 mehrere Optionen, die die deutsche und westliche Außenpolitik im Zusammenhang mit der Türkei zu verfolgen habe: Die Türkei, seit 1952 Vollmitglied der Nato, sei "die zentrale Front für die Stabilität im Nahen Osten". Insbesondere vermerkt wird die Bedeutung des türkischen Staates für die "von KSZE und Nato eröffneten Perspektive einer westlichen Ordnungspolitik und Ausstrahlung westlicher Sicherheit auf den gesamten bisher von Moskau aus beherrschten zentralasiatischen Raum mit seinen Turkvölkern und seiner islamischen Kultur."

Eine "Ordnungsfunktion" verspricht man sich demnach im Bundesverteidigungsministerium vor allem am Schwarzen Meer und in Zentralasien. Rumänien, Bulgarien und Georgien seien "von der russischen Kontrolle frei geworden". In Aserbaidschan hofft man auf das "ethnisch-kulturelle Band", das die Aseris wegen der Sprachverwandtschaft mit der Türkei verbinde und das dem schiitischen Einfluß des Nachbarstaates Iran begrenzen soll. Gleiches gilt für die seit 1996 vereinbarte sicherheitspolitische und militärische Zusammenarbeit mit Israel.

In Zentralasien stelle die Türkei "als nach Westen gewandtes muslimisches Land einen natürlichen Partner der derzeit auch nach Europa blickenden zentralasiatischen Völker" dar. Allein in Turkmenistan sollen die viertgrößten Erdgasreserven der Welt lagern, insgesamt werden vier bis zehn Milliarden Tonnen Erdöl in Zentralasien vermutet - das heißt, die zweitgrößten Erdölvorkommen der Welt.

Die Financial Times hat die Region um Aserbaidschan bereits als "vermutlich einen der wichtigsten neuen Märkte zu Anfang des 21. Jahrhunderts" bezeichnet. Neben der politischen Einflußnahme Ankaras als "Ordnungsfaktor" in der Region kommt dem Land auch beim Pipeline-Transport des flüssigen Goldes zukünftig eine gewichtige Rolle zu: Der türkische Mittelmeerhafen Ceyhan ist ein neuralgischerPunkt der geplanten Pipeline-Route aus der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku.

Eine der wichtigsten Funktionen, die der Türkei im Hinblick auf westliche Sicherheitsinteressen wahrzunehmen hat, ist die "Abschirmung gegenüber dem Mittleren Osten". Diese Option nahmen die USA im Golfkrieg 1990/91 wahr, als US-Luftstreitkräfte von türkischen Stützpunkten aus zu Bombardements auf den Irak starteten. Der türkische Luftwaffenstützpunkt Incirlik dient den Vereingten Staaten nach wie vor als Ausgangsbasis für Kontrollflüge und Angriffe auf den Irak.

Rühl freute sich in seinem Papier: "Die strategische Kontrolle des gesamten mittelöstlichen Raumes von der Levante bis zum Golf ist von der Türkei aus auch in Zukunft wieder möglich, ohne die Nato als Bündnis in Aktion zu bringen, so lange die türkische Politik im Innern und gegenüber den Nachbarn wie auch im Bündnis dies erlaubt."

Für Deutschland, das seit Anfang des Jahrhunderts militärpolitisch stets eng mit der Türkei kooperiert hat und innerhalb der Nato schon seit 1964 den Ansprechpartner für Ankara darstellt, verstärken wirtschaftspolitische Interessen die Notwendigkeit eines ungetrübten Verhältnisses: Deutschland ist der wichtigste Wirtschaftspartner der Türkei.

Eine entscheidende Voraussetzung für die Wahrnehmung dieser Optionen sieht man auf der Hardthöhe offenbar darin, "daß alle Partner die territoriale Integrität der Republik Türkei zur Grundlage ihrer Politik machen, auch in der kurdischen Frage." Bewaffnete Inkursionen müßten als das angesehen werden, was sie "im Sinne des Nordatlantikpakts von 1949 sind: als militärische Aggressionen, unabhängig von ihrem Ausmaß, ihrer Dauer und der Art der Bewaffnung oder davon, ob sie in der Türkei Unterstützung finden oder nicht". Ein unabhängiger kurdischer Staat würde den Mittleren Osten um einen weiteren internationalen Unruheherd bereichern und den gesamten territorialen Status quo seit 1924 erschüttern. Der türkischen Staatspolitik, so Rühl, müsse in der kurdischen Frage "eine breite Marge" gelassen werden.

Seit dem 27. September 1998 hat sich offenbar an diesen Einschätzungen nichts geändert. Warum, das hat schon 1982 der ehemalige Angestellte im Auswärtigen Amt, Alois Mertes, klargestellt: "Unsere Türkeihilfe ist kein herablassendes, generöses Geschenk an diesen Verbündeten. Sie dient der Wahrung unserer eigenen, elementaren Sicherheitsinteressen."

Deutsche Sicherheitsinteressen, das hat wohl auch Joseph Fischer jetzt eingesehen, müssen noch allemal mit Gewehren von Heckler & Koch verteidigt werden.