Krieger ohne Grund

Zu ihrem Jubiläum hat sich die Nato nicht nur einen Krieg beschert, sondern auch einigen Ärger für die Zukunft.

Was macht ein Verteidigungsbündnis ohne Angreifer? Ihre Hauptaufgabe, die Abwehr potentieller Gegner, durfte die Nato in ihrer 50jährigen Geschichte nie erfüllen. Trotz aller Feindbilder und Bedrohungsszenarien ist einfach kein Angreifer vorbeigekommen. Nun endlich, als die Nato ihr Jubiläum feierte, bombardierten Nato-Luftstreitkräfte im Rahmen der Kriegsoperation "Allied Force" den Rest des einstigen Jugoslawien. Angriff ist die beste Verteidigung, lautet die passende Latrinenparole. Doch wenn das Ziel des Einsatzes der Schutz der kosovo-albanischen Bevölkerung war, dann hat die Nato mit ihrem militärischen Einsatz irgend etwas falsch gemacht.

Offiziell ist die Nato ein multinationales Bündnis souveräner Staaten, die alle Entscheidungen einstimmig treffen. Tatsächlich wird sie aber von den USA beherrscht, die über den Großteil der konventionellen und atomaren Streitkräfte verfügen und die Oberbefehlshaber stellen. Daß die Nato ein "erfolgreiches" Militärbündnis wurde, hat einen Grund. Sie ist die erste Allianz, die eine integrierte Struktur entwickelte, ein gemeinsames Hauptquartier schuf und die nationalen Truppenteile zu alliierten Armeegruppen und Luftflotten zusammenfaßte.

Dieser Integrationsprozeß brauchte Zeit und wurde von den USA dominiert, wie man am Beispiel der Strategieentwicklung sehen kann. Am 19. Oktober 1949 verabschiedete das Nato Military Committee sein erstes Strategiepapier. Das sieben Seiten lange Dokument "MC 3" besagte nur, daß die Nato im Falle eines Angriffs so schnell wie möglich mit allen verfügbaren Mitteln den Kampf aufnehmen werde. Es galt, den sowjetischen Einfluß in Europa einzudämmen. Das sollte mit Hilfe der von den USA übernommenen Politik des Roll Back geschehen.

Anfang der fünfziger Jahre sah man in Atomwaffen lediglich besonders große und billige Sprengkörper. Um die US-amerikanische Überlegenheit gegenüber der Sowjetunion zu gewährleisten, verabschiedeten die USA 1954 die Strategie der "massiven Vergeltung". Im Falle eines Angriffs sollte sofort und umfassend mit Atomwaffen zurückgeschossen werden. Einsatz von Atomwaffen so früh wie nötig, lautete die Formel. Diese Strategie übernahm die Nato am 22. November 1954 als "MC 48".

Wenige Jahre später wurde deutlich, daß die radioaktive Verstrahlung durch die einsatzbereiten Nuklearwaffen im Kriegsfall so groß sein würde, daß das Überleben der eigenen Bevölkerung gefährdet wäre. Der damalige US-Verteidigungsminister Robert Strange McNamara setzte daraufhin 1962 zahlreiche Veränderungen der US-Politik durch: Die Zahl der strategischen Atomsprengkörper wurde ebenso wie die Sprengwirkung verringert.

Ziele der eigenen Nuklearwaffen sollten nicht mehr die Städte, sondern die Nuklearwaffen des Gegners sein, was entsprechend treffgenaue Raketen erforderte und die Angst vor einem atomaren Erstschlag schürte. Atomwaffen sollten zudem so spät wie möglich zum Einsatz kommen. "Flexible Response" wurde dieses Konzept genannt, das die Nato erst am 16. Januar 1968 mit der Unterzeichnung des Dokuments "MC 14/3" übernahm. Diese neue Strategie der Nato weckte aber Zweifel, ob die USA einen Atomkrieg auf Europa begrenzen wollten.

Innerhalb der Nato verständigte man sich auf den sogenannten Ersteinsatz von Atomwaffen, das heißt, das Bündnis wollte in einem Krieg Nuklearwaffen auch dann abfeuern, wenn der Gegner nur konventionelle Waffen einsetzte. Unter welchen Umständen dies erfolgen sollte, darauf konnten sich die Nato-Staaten jedoch nie einigen. Die Nato stellte das als besonders cleveren Zug dar. Was man selbst nicht wisse, das könne auch kein Gegner ausspionieren. Die damaligen "General Defense Plans" sahen den Ersteinsatz von Atomwaffen in der Regel für den fünften oder sechsten Kriegstag vor.

Auf der politischen Ebene wurde die überkommene Strategie des Roll Back Ende der sechziger Jahre durch die sogenannte Entspannungspolitik abgelöst. Damit wollte man einen allmählichen Regimewandel in den osteuropäischen Staaten erreichen - was in den Jahren 1989/90 erfolgte.

Über die Zukunft der Flexible Response-Strategie ist zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges noch nicht entschieden. Auf die fundamentalen sicherheitspolitischen Veränderungen in Europa reagierte die Nato im November 1991 zunächst mit einer Veränderung ihrer politischen Strategie. Bereits einen Monat später waren diese Überlegungen überholt, als sich die Sowjetunion im Dezember 1991 selbst auflöste.

In den folgenden Jahren modifizierte die Nato gemäß den neuen politischen Leitlinien ihre Militärstrategie. Das Bündnis hält zwar einen großen Landkrieg in Europa für unwahrscheinlich: Es will aber für diesen Fall am atomaren Ersteinsatz festhalten, obwohl die Zahl der US-amerikanischen Atomwaffen in Europa mittlerweile von 7 500 auf 150 reduziert wurde. Einen Vorschlag des deutschen Außenministers Joseph Fischer vom November 1998, diese Politik zu ändern, lehnten die USA ab.

Am 24. April treffen sich nun die Regierungschefs der Nato-Staaten in Washington zu einer Konferenz, die von Daimler-Chrysler und US-amerikanischen Rüstungsunternehmen gesponsert wird. Dort soll ein neues politisches Strategiepapier verabschiedet werden. Obwohl eine Policy Coordination Group seit Januar 1998 an den Formulierungen arbeitet, konnten die mittlerweile 19 Mitgliedsstaaten bisher nicht in allen Punkten eine Einigung erzielen.

Doch eine fundamentale Veränderung der Nato-Politik ist ohnehin nicht zu erwarten. Dauerthema werden die Machtverhältnisse im Bündnis sein. Seit dem Aufstand der Franzosen vor vierzig Jahren haben die Europäer immer wieder ein stärkeres Gewicht im eigenen Bündnis gefordert, während sie gleichzeitig auch eine Stärkung der transatlantischen Beziehungen befürworten. Kein Wunder, daß sie bisher nur soviel "Emanzipation" erreichen konnten, wie ihnen die USA zugestanden.

Seit dem Berliner Nato-Gipfel im Juni 1996 dürfen die Europäer auch allein, ohne die USA, intervenieren. Dazu wurde mit dem Aufbau von "Combined Joint Task Forces" begonnen, die aber weiterhin auf Satellitenaufklärung und Lufttransport der US-Streitkräfte angewiesen sind. Statt mehr Macht zu erlangen, sind die Europäer nur zahlreicher geworden. Am 12. März nahm das Bündnis Polen, Tschechien und Ungarn auf. Entgegen den ursprünglichen Absichten werden aber auf dem Nato-Gipfel keine weiteren Staaten zum Beitritt ins Bündnis aufgefordert, weil man Rußland nicht noch mehr vergrätzen will. Die gespannten Beziehungen machten "einen behutsamen Umgang mit dem Selbstwertgefühl dieser kontinentalen Regionalmacht" erforderlich, wie der deutsche General Klaus Naumann vorsichtig in der NZZ formulierte.

Da die Bündnisverteidigung als traditionelle "Kernfunktion" obsolet ist, ist die Nato auch weiterhin auf der Suche nach ihrem Existenzgrund. Auch ihre prinzipiell Zustimmung für Peace-Keeping-Missionen rechtfertigt nicht die Beibehaltung von Streitkräften im gegenwärtigen Umfang. Der Forderung der USA, die Nato zu einem globalen Interventionsinstrument zu machen, verweigert sich die Mehrzahl der europäischen Nato-Staaten.

Eine solche Militärstrategie müßte durch entsprechende Streitkräfteziele in die Praxis umgesetzt werden. Unter dem Marketing-Slogan "Revolution in Military Affairs" haben die USA ihren Bündnispartnern schon eine ganz neue Generation von Waffensystemen angepriesen, die noch "intelligenter" sein sollen als die alten. Ziel ist das vollautomatisierte Schlachtfeld des 21. Jahrhunderts, auf dem keine Soldaten fallen, sondern Roboter Roboter killen.

Zunächst sah es so aus, als würden die USA sich im Streit um die Mandatierungsfrage durchsetzen. Doch als sie im vergangenen Dezember ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates im Irak intervenierten, schlossen sich ihnen nur die Briten an.

Als aber am 24. März die Nato Jugoslawien ebenfalls ohne UN-Mandat angriff, waren daran immerhin 13 Nato-Staaten aktiv beteiligt. Doch nun erscheint es so, als würde sich der Jugoslawienkrieg als Einzel- und nicht als Präzedenzfall erweisen. Nach dem Fiasko der Nato-Luftangriffe ist die Bereitschaft der Nato-Staaten zu weiteren "Abenteuern" zumindest vorläufig gedämpft.

Auch wenn Nato-Generalsekretär Javier Solana kürzlich behauptete, die Allianz habe "in jedem Augenblick ihrer Geschichte die richtige politische und militärische Strategie entwickelt hat, um mit den anstehenden Problemen fertig zu werden", könnte sich das bald ändern. Denn nur durch einen in jeder Hinsicht kostspieligen Bodenkrieg kann die Allianz eine militärisch-politische Niederlage noch abwenden. Dabei geht es der Nato nicht um das Schicksal der Kosovo-Albaner, sondern darum, was einmal in den Geschichtsbüchern darüber stehen wird, wer den ersten Nato-Krieg gewonnen hat.