Suche kognitive Dissonanz, kein Abstand

Auf verschlungenen Wegen in die Altbauten der Restboheme in Mitte. Diedrich Diederichsens Textsampler über die Stadt und den Sound

Ganz Berlin ist eine große Chiffre. Alles ist in Bewegung und voll mit Bedeutung. Unter den Stichworten "Neue Mitte", "Berliner Republik", "Pop und Politik", "Hauptstadt Hackesche Höfe und Potsdamer Platz" gehen aus allen Teilen der Republik Kontaktwünsche ein.

Auch Diedrich Diederichsen, Spex-Herausgeber und Popdozent, kann sich dem Sog von Berlin-Mitte nicht entziehen, diesem dunklen Fleck der Subkulturen, dem durchkommerzialisierten Alternativ-Themenpark. Doch wo es sonst "Berlin-bleibt-Berlin" heißt oder "Berlin-wird-erst-wieder-Berlin", geht es bei Diederichsen um die Gegenkulturen oder das, was davon übriggeblieben ist. Diederichsens These lautet etwa so: Im Zuge der allgemeinen Vervielfältigung von Lebensstilen bewegt sich Kulturelles und Politisches trotz aller Überlagerungen immer weiter auseinander. Deshalb wird es immer schwieriger, die Grundfrage eines linken oder emanzipativen Selbstverständnisses ("Was geht denn hier ab?") zu beantworten oder diese auch nur so zu stellen, daß man sich auf eine gemeinsame Wirklichkeit einigen kann.

"Der lange Weg nach Mitte" ist als dritter Teil einer Trilogie gedacht, die mit "Freiheit macht arm" über das Ende der Jugendkultur, wie man sie kannte, begann. Mitte der Neunziger erschien "Politische Korrekturen", das sich einem größeres Publikum öffnete und die Mißverständnisse beim Import von political correctness beschrieb. Nun wendet sich Diederichsen wieder der Restboheme zu, denen, die in der Vervielfältigung von Wahrnehmungen ihren Erfahrungen einen Ausdruck zu geben versuchen. In den Neunzigern sei das vor allem auf zwei Feldern geschehen, so Diederichsen, nämlich im Bereich Sound und Stadt, Popkultur und Stadtpolitik. Und auch das könne man nirgendwo so gut sehen wie in, an und durch Berlin-Mitte.

Nach den geraden und klugen Gedankengängen in "Politische Korrekturen", ist der Weg heuer eher schlau und verschlungen. Die Frage ist eher "Was nun?" als "Was tun?" Es geht um die "langwierigen Verhandlungen" zwischen Kultur - also Kunst und Musik - und Stadtplanung, also um die Politik der Restlinken. Das Reden über Pop habe sich in den Neunzigern verändert. Pop habe, in seinem Goldenen Zeitalter, den Sechzigern, einmal Oberfläche mit Kritik verbunden. Das sei dann auseinandergebrochen, aber eines der beiden Elemente habe es immer gegeben, und zumindest als Verweis auch das andere.

In den Siebzigern habe vor allem "Kritik" überwogen, in den Achtzigern die "Oberfläche". Dieses System sei in den Neunzigern aber durch Selbstreflexivität dominiert, was zum einen beide Felder wieder verbunden, zum anderen aber das ganze Feld so verändert habe, daß man jetzt eigentlich erst mal fragen müsse: Was geht? Wer verwertet wen? Und wie?

Und so, wie Pop immer für ein "Neu!" gestanden habe, das gegen die Verhältnisse in Stellung gebracht werden konnte, habe die Straße für die "echte" Wirklichkeit gestanden. Was auch wieder eines der Konzepte wäre, das der Verkomplizierung der Verhältnisse im Berlin der Neunziger postheroisch vor den Bus gelaufen ist. Denn die Forderungen an Stadtplanung konnten nicht gleichzeitig Glamour und Selbstverwaltung beinhalten. Entweder Tokio oder Landkommune. Schlimmstenfalls bekommt man dann von dem einen Modell die geordneten Verhältnisse und vom anderen die Langeweile ab. Also, welche Scheiße geht ab?

Wenn es um Berlin geht, wird Diederichsen nie wirklich konkret, aber das muß er auch nicht. Zwar werden Klaus Biesenbach und seine Biennale da in einem Nebensatz in die Tonne getreten, aber wer konkrete Beschreibungen erwartet, etwa wie sich in der Auguststraße - der neuen Berliner Kunstmitte - Neues, Altes und neues Altes zu einer urbanen Simulationssphäre verschränken, wird sie nicht finden. Herumzulaufen und dann darüber zu schreiben, ist Diederichsens Sache nicht.

Das ist jedoch kein Einwand. Auch wenn gerade dort die Vermischung von (sub-) cultural studies und Gentrifizierung so sichtbar wird wie nirgendwo sonst, ist ihr gerade nirgendwo sonst so schwer begrifflich beizukommen wie hier. Doch auch ohne es an Details festzumachen, handelt "Der lange Weg nach Mitte" genau davon. Zumal die potentiellen Leser des Buchs in nicht geringer Zahl in den Auguststraßen Deutschlands wohnen werden. "Was ich gerne tue, muß nicht mehr richtig sein", nennt Diederichsen das, oder das "dauerhafte Sich-Einrichten in der kognitiven Dissonanz".

In den restlichen zwei Dritteln des Buches - zum größten Teil schon veröffentlichte Aufsätze, Reden oder Plattenkritiken - nähert sich Diedrichsen dem Material dann stärker an. Sei es in "Drogen, Techno, Sport", wo es um den Raver, den Sportler und den Junkie und ihre medialen Repräsentationen geht und darum, was das alles mit der Privatisierung des öffentlichen Raums zu tun hat, oder in der "Reise durch die Neunziger in 5 Themenkreisen".

Über die Begriffe "Girlism", "Nerd", "Drogen", "EBM" und "linksradikal" durchquert Diederichsen noch einmal die Gegenden, die er im Berlin-Text als Popkultur und Stadtpolitik kartographiert hatte. Doch so wissend die Texte mitunter argumentieren - zumindest wenn es um afro-amerikanische Frauen, R'n'B und Identitätspolitik geht -, so sehr sind sie doch von einer gewissen Ratlosigkeit geprägt. Diese Ratlosigkeit hat natürlich auch damit zu tun, daß HipHop, in den, gerade von seiten der Poplinken, so viel investiert wurde, in seiner deutschen Variante eben nicht mehr weh tut, wie Diederichsen dies noch über eine Platte von Wahre Schule schrieb, und daß elektronische Musik, in ihrer avancierten Berliner Form zumindest, ausgerechnet in den matt silbrig-glänzenden Aluminiumhüllen daherkommt, in die auch die Neue Mitte ihre Versprechungen verpacken könnte.

Wenn mit HipHop Anfang bis Mitte der Neunziger noch versucht wurde, eine Brücke zwischen Politik und Poplinker zu bauen, vor allem dadurch, daß HipHop ein Verhältnis zur Geschichte hatte, die sich durch Samples ständig neu in den Sound einschrieb, sind die beiden Gegenden, die die Brücke verbunden hatte, anscheinend heute, Ende des Jahrzehnts, nicht mehr so dicht bevölkert. Und dort, wo das Leben tobt, in der Neuen Mitte, braucht auf einmal niemand mehr eine Verbindung. Elektronische Musik funktioniert weitgehend referenzlos und das politsymbolische Feld erfindet sich die Geschichte, die es braucht. Große Verwirrung.

"Politische Aktivität verbessert zur Zeit bestenfalls den politischen Diskurs und die Datenlage, auf die er sich bezieht." Worauf kann man sich noch beziehen? Diederichsens Idee ist dann überraschend adornitisch. Wenn es eine wahre Erkenntnis im Falschen gebe, dann die, die auf konkreten Erfahrungen beruhe, welche, in Ermangelung eines passenden Diskurses, bislang noch nicht "angeschlossen" werden konnten. Was das denn für Erfahrungsschätze sein könnten, die da brachliegen, muß wohl jeder für sich selbst entscheiden. Das ist zwar nicht viel, doch mehr geht wahrscheinlich nicht.

Diedrich Diederichsen: Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt. KiWi, Köln 1999, 314 S., DM 19,90