Tarifpolitischer Häuserkampf

Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden: Künftig dürfen Gewerkschaften gegen tarifwidrige Einzelverträge klagen

Schlechte Nachrichten für Unternehmer: Die Richter vom Kasseler Bundesarbeitsgericht (BAG) untersagen den Arbeitgebern, mit ihren Beschäftigten einzelvertraglich festzulegen, daß sie weniger verdienen, als im Tarifvertrag festgelegt wurde. Selbst der Argumentation eines Medienkonzerns, eine Arbeitsplatzgarantie sei "günstiger" als zwei Stunden unentgeltliche Mehrarbeit, vermochten die obersten Hüter des Arbeitsrechts nicht folgen. Eine solche Beschäftigungsgarantie könne, so die Kasseler Richter vergangene Woche, nicht in den Günstigkeitsvergleich nach dem Tarifvertragsgesetz einbezogen werden. Dies sei einer gerichtlichen Prüfung nicht zugänglich - alleine die Tarifparteien könnten einschätzen, was mehr wert ist: Geld oder Arbeitsplatz.

Es war die in Gewerkschaftskreisen als "linksradikal" eingestufte IG Medien, die durch alle Instanzen geklagt hatte und partout Recht bekommen wollte: Der Firma Burda Druck in Offenburg sollte untersagt werden, mit den Beschäftigten Arbeitsverträge abzuschließen, die das Tarifniveau der Druckindustrie unterschreiten. Nun staunt die Fachwelt, da der Meinung der Gewerkschafter rechtgegeben wurde.

Nach Einschätzung von IG Medien-Justitiar Helmut Platow hat das BAG mit seinem Urteil ein neues Kapitel in der Geschichte der Rechtsprechung aufgeschlagen: Es hat im Grundsatz entschieden, daß Gewerkschaften eine Klagebefugnis gegen tarifwidrige betriebliche Regelungen haben. Nach bisheriger Rechtsprechung war das dem einzelnen Arbeitnehmer vorbehalten. Platow hatte den Rechtsstreit durch die Instanzen geführt.

Darum ging es: Burda hat mit dem Betriebsrat vereinbart, daß die Beschäftigten sich einzelvertraglich verpflichten, 39 statt 35 Wochenstunden zu arbeiten, wobei zwei Stunden unentgeltlich zu leisten sind. Nach Burda-Angaben haben 95 Prozent der Beschäftigten solche in der Fachwelt "Regelabsprachen" genannten Verträge unterzeichnet. Einige haben die Unterschrift verweigert. Ihnen war daraufhin die 35-Stunden-Woche zugestanden worden. Alle anderen arbeiteten fortan 39 Stunden.

Für den Fall, daß sich die 1 400-köpfige Belegschaft des Betriebs verweigern sollte, hatte Burda gedroht, die anzuschaffende neue Druckmaschine nicht in Offenburg, sondern im benachbarten Elsaß, wo der Konzern ebenfalls eine Druckerei besitzt, aufzustellen. Dann müsse man leider 400 Leute entlassen. Zuvor wurde bereits die Burda-Druckerei in Darmstadt (600 Beschäftigte) dicht gemacht.

Zunächst schien alles eitel Sonnenschein: Nachdem man mit der Erpressung durchkam, wurde die Sache vom Konzern sogar als "beispielhaftes Modell für ganz Deutschland" gefeiert. Mit einem Urteil, wie es die Kasseler Richter jetzt entschieden, hatte man freilich nicht gerechnet.

Schließlich gibt es solche betrieblichen "Bündnisse für Arbeit" mittlerweile zuhauf, weshalb das gewerkschaftliche Wehklagen über die "Erosion des Flächentarifvertrages" immer mehr zunimmt. Und weil die herrschende Rechtsmeinung davon ausging, daß es nur dem einzelnen Arbeitnehmer erlaubt ist - zwar mit Hilfe der Gewerkschaft - gerichtlich gegen Tarifbruch vorzugehen, wurden auch die Stimmen, die nach einem "Verbandsklagerecht" der Gewerkschaften riefen, immer lauter.

Doch solange es ein solches Instrument nicht gibt, dachten sich die IG Medien-Strategen, muß man sich eben durch die Instanzen klagen. Entsprechende Verfahren vor dem Arbeitsgericht und dem Landesarbeitsgericht wurde jedoch verloren. Jetzt hat der erste Senat des BAG unter Vorsitz seines Präsidenten Prof. Dr. Thomas Dieterich entschieden, daß gezielte Eingriffe der Arbeitgeber in das Tarifvertragswesen einen Angriff auf das Koalitionsrecht nach Artikel 9, Absatz 3 des Grundgesetzes darstellen.

Die Einschätzung der BAG-Richter war eindeutig: Absicht von Burda sei es gewesen, den Tarifvertrag der Druckindustrie zu unterlaufen. Daraus folgerten sie, daß der Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft begründet sei. Da Burda bestreitet, tarifgebunden zu sein, wurde das Verfahren an die untere Instanz zurückverwiesen.

Hier dürfte dann noch mal Spannung aufkommen. Vor einigen Jahren hat Burda seinen Gesamtkonzern in einzelne "Profitcenter" zerschlagen, die als eigenständige GmbHs fungieren und nicht einem Arbeitgeberverband angehören. Da aber der Gesamtkonzern Mitglied im Bundesverband Druck war und ein Burda-Manager auch noch in der Verhandlungskommission der Arbeitgeber den Vertretern der IG Medien gegenüber saß, schlossen Gewerkschafter auf die Tarifgebundenheit von Burda.

Mit der Kasseler Entscheidung können natürlich nur tarifgebundene Betriebe in die Schranken gewiesen werden. Im Artikel 9, Absatz 3 des Grundgesetzes heißt es, daß jedermann zur "Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" Vereinigungen bilden kann. Aus dieser grundgesetzlich garantierten "Koalitionsfreiheit" wird die Tarifautonomie zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden abgeleitet. Und nur tarifgebundene Betriebe - also solche, die einem Verband angehören - und Gewerkschaftsmitglieder sind an Tarifverträge gebunden. Daraus schlußfolgert der IG Medien-Vorsitzende Detlef Hensche: Wenn es Sinn machen soll, daß sich Arbeiterinnen und Arbeiter in Gewerkschaften zusammenschließen, dann müssen diese auch das Recht haben, über die Tarifgeltung zu wachen und kollektiv gegen Verstöße gerichtlich vorzugehen. Das ist jetzt gegeben.

Gegen Tarifflucht durch Verbandsaustritt haben Gewerkschaften auch weiterhin nur ein Mittel: Tarifverträge betrieblich durchzusetzen, sprich einen "tarifpolitischen Häuserkampf" führen. Der haut aber nur da hin, wo die Belegschaften gut organisiert sind. Einer der längsten dieser Häuserkämpfe - er fand im Organisationsbereich der IG Medien statt - dauerte 13 Monate.

Im Prinzip haben die Gewerkschaften jetzt das geforderte Verbandsklagerecht und können unter Berufung auf die BAG-Entscheidung gegen tarifwidrige Betriebe vorgehen. Dennoch verlangt der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), daß das Procedere gesetzlich festgeschrieben wird. Wohlwissend, daß Arbeitsrecht - und erst recht Arbeitskampfrecht - ein "bewegliches Rechtsgut" ist, traut man dem Frieden nicht und will dagegen gewappnet sein, daß irgendwann andere Arbeitsrichter anders entscheiden.

Das ändert freilich an einer grundsätzlichen Schwäche der Gewerkschaften nichts: Sie haben sich schon viel zu sehr auf die "betriebliche Logik" eingelassen und nicht wenige Tarifverträge enthalten Öffnungsklauseln, die es "notleidenden" Betrieben erlauben, das Tarifniveau abzusenken. Schließlich gehe es, wie Hensche in Kassel betonte, "nicht nach dem Prinzip, 'es lebe der Tarifvertrag' und der Betrieb geht zugrunde".