Krieg ohne Verweigerer

Volker Rühes Pläne gehen auf: 1999 führen Nato-Angriffe mit deutscher Beteiligung nicht mehr zu einer Welle von Bundeswehr-Aussteigern

Die Bombenangriffe der Nato gegen Jugoslawien hatten kaum begonnen, da meldete sich auch schon die Bonner Hardthöhe zu befürchteten Kollateralschäden an der Heimatfront zu Wort.

Ein Sprecher gab Entwarnung: Die Nato-Angriffe hätten zu "keiner signifikanten Änderung" bei der Zahl der Kriegsdienstverweigerer geführt. Im ersten Kriegsmonat März hätten zwar 15 513 junge Männer den Dienst mit der Waffe verweigert, doch das seien lediglich 2,1 Prozent mehr als im Februar. Und daran wird sich nach Ansicht der Wehrbeauftragten des Bundestages, Claire Marienfeld, nicht viel ändern. Schließlich, so Marienfeld, gebe es überhaupt keinen Zusammenhang zwischen Wehrdienst und dem laufenden Kosovo-Einsatz der Bundeswehr: "Kein Wehrpflichtiger muß befürchten, daß er in einen Auslandseinsatz gehen muß." Daher bestehe auch "kein Grund, wegen des Krieges im Kosovo den Wehrdienst zu verweigern".

Hinter dieser Meinung steckt wohl vor allem der Wunsch, daß der Verweigererrekord von 1998 in diesem Jahr nicht erneut gebrochen wird. Fatal wäre das vor allem für die Bundeswehr, die bei ihrer derzeitigen Stärke von 334 000 Mann nicht mehr die nötige Anzahl an Wehrpflichtigen heranziehen könnte. Die Wehrbeauftragte selbst hatte Mitte März in ihrem Jahresbericht feststellen müssen, daß im letzten Jahr 171 657 Anträge auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer gestellt wurden. 1997 waren es noch 155 239 gewesen. Damit kletterte die Quote der Verweigerungen in einem Jahrgang auf stattliche 34 Prozent.

Marienfeld monierte in ihrem Bericht, daß viele Wehrpflichtige inzwischen von einer faktischen Wahlfreiheit zwischen Wehr- und Zivildienst ausgingen. Das aber stehe der "eindeutigen Verfassungs- und Rechtslage" entgegen, die einen "Beitrag des jungen männlichen Staatsbürgers zur Landesverteidigung" vorsehe. Die geforderte Berufung auf Gewissensgründe für eine Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe würde von Jugendlichen heute eher als Formalismus angesehen. Wirkliche Gründe seien heute häufig allein pragmatisch.

Um das im Sinne des Staates zu ändern, müßten "verantwortliche staatliche Einrichtungen", an erster Stelle die Schulen, den Willen des Gesetzgebers und staatstreue Motivationen vermitteln. Hierfür empfiehlt Marienfeld ausdrücklich den Rückgriff auf den "engagierten Einsatz der Jugendoffiziere", die ein "glaubwürdiges Bild vom Dienst in den Streitkräften" zeichnen könnten. Dabei gesteht auch die Wehrbeauftragte in ihrem Bericht ein, daß der Grundwehrdienst für die Betroffenen ein "erheblicher Eingriff in ihre private und berufliche Lebensplanung" ist. Und dieser Eingriff werde wegen der positiv veränderten Sicherheitslage Deutschlands "zunehmend als unverhältnismäßig empfunden".

Offensichtlich wird es trotz der Beteuerung, daß der Bedarf der Truppe an Wehrpflichtigen gedeckt sei, langsam eng für die Bundeswehr. Die brauchte im vergangenen Jahr 135 000 Wehrpflichtige - 112 000 Grundwehrdienstleistende und 23 000 freiwillige Längerdienende. Weil diese Zahl nicht erreicht wurde, konnte ein Viertel der geplanten Stellen für Soldaten, die in den Krisenreaktionskräften statt der üblichen zehn mindestens zwölf Monate dienen wollen, nicht besetzt werden. Und das trotz des finanziellen Anreizes von immerhin 40 Mark pro Tag.

Auf der anderen Seite muß die Verweigererlobby konstatieren, daß ein laufender Krieg mit Bundeswehrbeteiligung inzwischen nicht mehr zu einem sprunghaften Anstieg von Kriegsdienstverweigerungen führt, wie es noch im Golfkrieg 1991 zu beobachten war. Damals stieg die magische Zahl sozusagen über Nacht auf 151 212. Im Jahr zuvor hatte es gerade 74 569 Kriegsdienstunwillige gegeben. Für Ralf Siemens von der Berliner Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär ist die seither konstant hohe Zahl der Kriegsdienstverweigerer eine Erklärung dafür, daß der tägliche Beratungsbetrieb für Verweigerer in den Büros der Kampagne seit Kriegsbeginn nicht sonderlich zugenommen hat. "Wir hatten zwar auch einige Anrufe von Bundeswehrsoldaten, doch die wollen in der Regel nur abklären, wie sie im Falle eines Marschbefehls nach Jugoslawien eventuell aussteigen könnten", sagt Siemens.

Viele, die der Bundeswehr ohnehin kritisch gegenüberstünden, hätten sich wohl auch ohne den derzeit laufenden Krieg im Kosovo längst gegen jeglichen Militärdienst entschieden. Wie sonst sollten inzwischen über 170 000 Kriegsdienstverweigerer zu erklären sein. Für viele bereits dienende Zeit- und Berufssoldaten sei ein Ausscheiden zudem eine teure Angelegenheit, sagt Siemens. "Wer bei der Truppe eine Berufsausbildung gemacht oder als Offizier gar studiert hat, der müßte im Fall einer Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen die Kosten der Ausbildung zurückzahlen", sagt Siemens. Das könnten dann fünfstellige Summen werden.

Offensichtlich wägen viele Soldaten ab, wie groß die Gefahr einer Entsendung für sie wirklich ist. "Im Falle eines beginnenden Bodenkrieges könnte sich das allerdings schnell ändern", meint Siemens. Im Gegensatz zu aktiven Soldaten, wo es einige Dutzend Kontakte gab, riefen seit Kriegsbeginn jedoch täglich Reservisten der Bundeswehr im Kampagne-Büro an. Und das, obwohl auch sie nur auf freiwilliger Basis in den Krieg geschickt werden könnten.

"Offensichtlich wurden viele Reservisten durch den Krieg daran erinnert, daß ja auch sie zu den Betroffenen zählen könnten", sagt Siemens. Vergleiche man die derzeitige Situation mit dem Aufruhr, den 1991 noch die teilweise Beteiligung der Bundeswehr am Golfkrieg ausgelöst hatte, "dann sind die Pläne des alten Verteidigungsministers Volker Rühe inzwischen aufgegangen", konstatiert er. Armee und Bevölkerung seien in der Tat Schritt für Schritt an Auslandseinsätze gewöhnt worden.

Die Lage für Kriegsdienstverweigerer, die gewöhnlich artig ihren Zivildienst ableisten, und totale Verweigerer von Zwangsdiensten, die auch im letzten Jahr in etlichen Fällen zu Bewährungs-, Haft- und Geldstrafen verurteilt worden waren, könnte sich übrigens durch ein denkwürdiges Urteil der dritten Strafkammer des Potsdamer Landgerichtes auf wunderbare Weise entspannen. Der Vorsitzende Richter Braunsdorf hatte im Strafverfahren gegen den Totalverweigerer Volker Wiedersberg Zweifel an der Verfassungskonformität der Wehrpflicht geäußert. Das Verfahren wurde ausgesetzt und zur Entscheidung nach Karlsruhe überwiesen.

Nach Ansicht des Gerichts muß das Bundesverfassungsgericht prüfen, ob die Wehrpflicht ein unverhältnismäßiger Eingriff in die persönliche Handlungsfreiheit des Wehrpflichtigen sei. Seit dem Ende der Blockkonfrontation 1989 erfordere die Sicherheitslage das Festhalten an der Wehrpflicht nicht mehr. Die Wehrpflicht schränkt der Entscheidung zufolge die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit der Person, der Freizügigkeit und der Unverletzlichkeit der Wohnung ein. Dies aber könne nur gerechtfertigt werden, so der Richter, wenn eine Wehrpflichtarmee für die Verteidigung der Bundesrepublik unerläßlich sei. Wiedersberg, der schon zu DDR-Zeiten den Dienst in der NVA verweigert hatte und 1998 seinen Zivildienstplatz beim Grünflächenamt Potsdam nicht angetreten hatte, könne daher letztlich nicht wegen Dienstflucht bestraft werden.

Der ehemalige Verteidigungsminister Rupert Scholz ist sich sicher, daß Karlsruhe die Potsdamer Entscheidung "mit links abschmettern" werde. Auch Minister Rudolf Scharping hält an der Wehrpflicht fest. Diese "schütze unser Land" und sichere Deutschland vor dem Anspruch weltweiten militärischen Engagements, zudem wäre jede Berufsarmee noch teurer. Doch genau diese Frage - inklusive der Notwendigkeit der Wehrpflicht - läßt der Minister in seiner gerade letzte Woche eingesetzten unabhängigen Experten-Kommission "Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr" selber prüfen.