Die Klempner vom Balkan

Während die Nato Jugoslawien zum ökonomischen Brachland macht, verhandeln in Bonn Diplomaten über den Wiederaufbau der gesamten Region.

Sightseeing hat in Jugoslawien derzeit etwas Bedrückendes. Gleich einer der ersten Ausflüge der UN-Delegation in Jugoslawien führte die zehn Beobachter unter der Leitung des spanischen Spitzendiplomaten Sergio Vieira De Mello nach Kragujevac. Die etwa 100 Kilometer südlich von Belgrad gelegene Stadt war vor den Nato-Angriffen so etwas wie das Zentrum der jugoslawischen Industrie. Vor 140 Jahren begann das Zastava-Werk in Kragujevac mit der Produktion: Lastwagen, Agrarmaschinen - und auch leichte Waffen.

Anfang April endete sie. Denn da feuerte die Nato insgesamt 20 Präzisions-Raketen auf das Zastava-Werk. 36 000 Arbeitsplätze gingen verloren, nach Angaben der Fabrikleitung kam es auch zu menschlichen Opfern: 124 Arbeiter wurden teilweise schwer verletzt.

Doch während die Wunden der Verletzten einmal verheilt sein werden, dürfte es etwas länger dauern, bis Zastava wiedererrichtet sein wird: "Mit der einen Hand streicheln sie, und mit der anderen schlagen sie uns", ruft ein Passant, als die UN-Delegation durch die Trümmer des Zastava-Werkes stiefelt. Der Kommentar des ehemaligen Fabrikarbeiters drückt die Befindlichkeiten auf dem Balkan pointiert aus: Während die Nato mit ihren Raketen und Bomben die industrielle Lebensgrundlage Jugoslawiens immer weiter zerstört, bleibt der Uno nur noch eines: Schadensbilanz ziehen.

Auch tausend Kilometer weiter nördlich, auf dem Bonner Petersberg, wird in dieser Woche über die Zukunft des durch die Nato-Bombardements schwer in Mitleidenschaft gezogenen Balkan geredet. Rund dreißig europäische Spitzendiplomaten, Vertreter der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds beraten darüber, wie der Balkan aus jenem wirtschaftlichen Desaster herausgezogen werden kann, das die Raketen derzeit in Belgrad und Umgebung anrichten.

Pünktlich zu den Beratungen erschien Mitte vergangener Woche der halbjährliche Konjunkturbericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris: Die indirekten Kosten des Kosovo-Kriegs, so die ernüchternde Bilanz des Papiers, drohe die Stabilisierungs- und Wirtschaftsreformprogramme in den südosteuropäischen Reformländern Bulgarien, Rumänien und Kroatien zu untergraben.

Tatsächlich hat die Konzentration der Nato-Luftangriffe auf die jugoslawischen Industriekomplexe auch in den Nachbarländern zu einem Beinahe-Zusammenbruch der Volkswirtschaften geführt. Zwar stellte ein Vorausbericht der Europäischen Kommission für den Gipfel einschränkend fest, daß die wirtschaftlichen Folgen des balkanischen Abenteuers noch nicht genau beziffert werden könnten. Doch der Internationale Währungsfonds ist da schon weiter: Albanien, Mazedonien, Bulgarien, Rumänien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina müßten mit veritablen Budgetlöchern zwischen 900 Millionen und zwei Milliarden Mark rechnen.

Am besten davonkommen könnte noch das Kosovo selbst: Wenn die südserbische Provinz tatsächlich noch unabhängig, zumindest aber zum internationalen Protektorat gemacht würde, werden die Europäer auch mit den Begehrlichkeiten einer möglicherweise in Pristina installierten UCK-Regierung rechnen müssen: Für ihren Kampf gegen den jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic werden die Separatisten die EU-Staaten schon zur Kasse bitten.

Auch für diesen Fall hat der Internationale Währungsfonds bereits Zahlen vorgelegt, wobei sich die Finanzexperten auf Vergleichswerte aus Bosnien berufen. Zwischen 1996 und 1999 steckten die internationalen Institutionen rund zehn Milliarden Mark in den Wiederaufbau des Landes. Im Krankheitsfalle Kosovo kämen Europäer und US-Amerikaner da schon billiger weg: Weil die Provinz nur ein Fünftel der Fläche Bosnien-Herzegowinas beträgt und von Anfang an über weitaus weniger Industrie verfügte, hofft die Europäische Union, schon mit etwa drei bis fünf Milliarden Mark auszukommen.

Schlecht hingegen sieht es aus für die kleinere jugoslawische Teilrepublik Montenegro. "Wir brauchen schnell finanzielle Hilfe, sonst wird Montenegro kollabieren", warnte bereits der pro-westliche, aber trotzdem von den Nato-Raketen zugebombte montenegrinische Präsident Milo Djukanovic. Rund 40 Prozent der Bevölkerung Montenegros sind arbeitslos und werden es vorerst auch bleiben: Montenegros Wirtschaft ist abhängig von den Öllieferungen, die im Hafen von Bar landen. Oder besser: vor dem Embargo dort gelandet sind. Zudem sind die Appelle der montenegrinischen Führung an die Nato, ihre Raketen nicht über dem Land abzuwerfen, in Brüssel bislang ungehört geblieben.

Ähnliche Taubheit könnte auch bei den Beratungen des Westens auf dem Bonner Petersberg folgen: Während das Kosovo nach einem noch nicht abzusehenden Ende der Luftangriffe wohl mit direkter westlicher Intervention rechnen kann und die wie auch immer zusammengesetzte internationale Sicherungstruppe wirtschaftliche Hilfe ins Land mit sich bringt, ist das im Falle Montenegro wohl ziemlich unsicher. Die Europäische Kommission betont in ihrem Vorausbericht zum Bonner Gipfel, daß "der internationale Status" der jugoslawischen Teilrepublik ein "kritischer Faktor" sei. Solche Probleme wird das Kosovo wohl bald überwunden haben.

Um die Anrainerstaaten am Balkan politisch zu beglücken, setzte Außenminister Joseph Fischer Eckpunkte: Der Politische Direktor des Auswärtigen Amtes, Gunter Pleuger, erklärte letzte Woche, man wolle den Staaten des Balkan die "ausdrückliche Perspektive" einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union anbieten. Großbritanniens Premier Tony Blair eröffnete insbesondere Bulgarien den Ausblick in diese Zukunft. Doch mehr als die politische Panikreaktion einer wirtschaftlichen Katastrophe kann das nicht sein: Bei den osteuropäischen Reformländern hatte es knappe zehn Jahre gedauert, bis endlich Beitrittsverhandlungen begonnen wurden. Doch vor dem Jahr 2002 darf sich kein einziges der sechs bisher vorgesehenen Staaten in Zentraleuropa den Nobel-Europäern anschließen.

Noch mehr Zeit ließ man sich in Brüssel für den Balkan. Mit allen Mitteln wurde in den letzten Jahren versucht, derartige Begehrlichkeiten der diversen Anwärter zurückzustellen. Und nun, nach neun Wochen Krieg, soll es plötzlich soweit sein? Wohl kaum. Abgesehen davon ist der Köder des Westens für eine weitere Unterstützung der Luftschläge durch die Anrainerstaaten selbst im günstigsten Falle unseriös: Die EU hat derzeit schon genug damit zu tun, die Probleme mit den eigenen Strukturen und Finanzen bei der aktuellen Erweiterung zu verkraften. Schwer zu glauben, daß man auch noch den Beitritt wirtschaftlich wesentlich weniger entwickelter Länder verkraften könnte.

Übrigbleiben bei der Bonner Spendenaktion wird deshalb auch Jugoslawien selbst: Bevor es politische und wirtschaftliche Hilfe geben könne, müsse es dort zu einer Demokratisierung kommen, heißt es von den Emissären des Balkan-Gipfels. Was die Raubritter-Ambitionen in Belgrad natürlich weiter beschleunigt: Der ultranationalistische Vizepremier Vojislav Seselj hat schon angekündigt, sich nach dem Krieg an ausländischem Eigentum auf jugoslawischem Boden schadlos zu halten und dieses zu konfiszieren.