Tamagotchi fürs Gewissen

Die europäische Flüchtlingspolitik erfindet die Heimat neu: Das Beispiel Kosovo

Die wohl beachtlichste Konversion, die der Kosovo-Krieg mit sich gebracht hat, ist nicht die grüner Kriegsgegner zu militärpolitischen Technokraten oder die eines ehemaligen Nato-Gegners zum kriegführenden Nato-Generalsekretär. Es ist vielmehr die Wandlung von Regierungen, die ein Höchstmaß an Technik und Diplomatie zur Bekämpfung von Flüchtlingen einsetzen, zu staatliche Hilfsorganisationen für "Vertriebene".

Der Kosovo-Krieg wird medial in der Terminologie der Flüchtlingspolitik entsorgt: Keine Stellungnahme des Bundesverteidigungsministeriums ohne Hinweis auf das Leid der "Vertriebenen", keine Rechtfertigung "kollateraler Schäden" ohne die Erwähnung des größeren Elends der Kosovo-Albaner. Daß Flüchtlingsabwehr und Außenpolitik zusammengehören, wird von den zur Flüchtlingsabwehr geschaffenen Arbeitsstäben seit langem gefordert. Im Kosovo wird dies nun unter umgekehrten Vorzeichen praktiziert.

Das als Fluchtursachenbekämpfung deklarierte Konzept des Rechts auf Heimat, das auf der völkischen Vorstellung basiert, Menschen wurzelten in einer Heimat und könnten daher nicht einfach gehen, wenn es ihnen dort nicht gefällt, ist zum Instrument europäischer Außenpolitik geworden. Im Kosovo wurde mit der Aggression die Situation erst geschaffen, die mit scheinbarer Notwendigkeit die Nato zwingt, den Flüchtlingen wieder zu ihrer Heimat zu verhelfen.

Eine Logik, der auch einstige Kriegsgegner folgen. "Es gibt keine Rückkehr zur Politik ohne die Rückkehr der Geflohenen", erklärte beispielsweise Erhard Eppler Mitte April in der Zeit. Er formulierte so weniger das Versprechen an die Flüchtlinge, dafür zu sorgen, daß sie bald wieder vom Zelt in eine Wohnung wechseln können, sondern die Richtlinien einer Außenpolitik, die sich vom Prinzip souveräner Nationalstaaten verabschiedet hat: "Wir haben das Prinzip der Souveränität verletzt. Hoffentlich haben wir dies gewollt und werden es weiter tun." Es hätte Edmund Stoibers Vergleichs zwischen den Vertriebenen und den Kosovo-Albanern auf dem sudetendeutschen Treffen in Nürnberg nicht bedurft, um all jenen souveränen Staaten zu drohen, die dem "Recht auf Heimat" im Weg stehen.

Als solche faßte offenbar auch der noch amtierende israelische Außenminister Ariel Sharon den Nato-Angriff auf. Während er seine Kritik an der Nato damit begründete, daß diese "immer größere islamische Zonen" in Europa schaffe, warf die israelische Linke ihm vor, er wolle eine Diskussion abwenden, die indirekt Auswirkungen auf die Situation Israels haben könnte. Die Staatsgründung Israels 1948 hatte ähnlich viele Flüchtlinge wie jetzt im Kosovo zur Folge.

In der Tat haben die Kosovo-Albaner mit den palästinensischen Flüchtlingen von 1948 gemein, instrumentalisiert zu werden - durch die Nato hier, durch die Staaten der Arabischen Liga dort. Nach dem Sechs-Tage Krieg beschrieb Martha Gelhorn die Politik der Arabischen Liga, die heute wieder an Aktualität gewinnt. Aus arabischer Sicht konnte eine Lösung des israelisch-arabischen Konflikts nur darin bestehen, entweder alles (die "Zerschlagung Israels" und die Rückkehr der Palästinenser in ihre "Heimat") oder nichts (rund 500 000 Palästinenser leben bis heute in libanesischen Flüchtlingslagern) zu erreichen.

Eine erfolgreiche Integration der Palästinenser in andere Staaten der Region hätte den Territorialanspruch unterminiert. Die arabischen Staaten, schreibt Gelhorn, hätten daher ein vitales Interesse, die Palästinenser künstlich und über Jahre als Flüchtlinge zu halten. Denn ohne "das palästinensische Flüchtlingsproblem (gebe) es keine passende arabische Ausrede für den Krieg gegen Israel".

Was die dominierende arabische Position in diesem Konflikt auszeichnete, war die Konstruktion einer organischen Einheit aus Volk, gemeinsamer Geschichte und Kultur und dem angestammten Boden. Dieses Konzept einer ethnischen Differenz - zu trennen, was miteinander nicht kann - gilt nun auch wieder im Kosovo. Die UCK verkörpert das völkische Prinzip, das sich aktuell in der europäischen Flüchtlings- und Außenpolitik durchsetzt: Sie kämpft nicht für das Recht, "albanisch" sein zu dürfen, was sich auch im benachbarten Albanien oder im albanischen Kulturverein in Ulm oder Wuppertal machen ließe, sondern für ihre Heimaterde.

Als politische Antriebskraft aber funktioniert das Selbstbestimmungsrecht nur, wenn das politische Subjekt als "Volk" begriffen wird. Dies ist auch die Schwachstelle aller ethnischen und völkischen Bewegungen: Sie appellieren an eine Gemeinsamkeit, die soziale und ökonomische Konflikte der jeweiligen Gesellschaft ignoriert.

Wie die meisten nationalen Bewegungen krankte auch die UCK daran, daß die gegensätzlichen Interessen innerhalb der als Volk apostrophierten Gruppe durch Assimilation und sozialen Aufstieg, Emigration etc. eine effektive Erfindung von Gemeinsamkeit verhinderten. Die Luftschläge der Nato und die Massenflucht der Kosovo-Albaner haben diese Erfindung überflüssig gemacht und dem Kampf der UCK um die Heimaterde einen für jeden Flüchtling nachvollziehbaren Sinn verliehen. Im Flüchtlingslager werden die Kosovo-Albaner zum "Volk ohne Boden", das unter der Vorgabe der Nato tatsächlich ein gemeinsames Interesse hat: Ein "befreites" Kosovo zu schaffen, als einzige Alternative zum dauerhaften Leben im Zelt.

Die Alternative, irgendwo hin zu gehen, wo man in Ruhe leben kann, wird mit einer Flüchtlingspolitik verhindert, die mit derselben Stringenz völkischer Bewegungen vorträgt, die Leute gehörten dort hin, wo sie herstammen. Das freigewählte Leben in der Diaspora wird unter dieser Voraussetzung zu einem nur als Interim zu rechtfertigenden Zustand.

Die Schengen-Staaten entdecken dabei die Vorzüge arabischer Flüchtlingspolitik. Eingliederung, so hieß es damals, würde die Menschen ihrer Heimat entfremden. Das Flüchtlingslager, ideeller Ausdruck einer nicht akzeptablen Interimslösung, wurde zur Dauereinrichtung. So wurden die Palästinenser zu etwas gezwungen, was beispielsweise Sudetendeutsche höchst freiwillig tun: sich auch in der dritten Generation noch über eine "Heimaterde" zu definieren, auf der man nun einmal nicht lebt.

Die Arbeitsgruppe Asyl der Bundesregierung greift darauf unter der Bezeichnung heimatnahe Flüchtlingsunterbringung zurück: "Durch gemeinsame Anstrengung (...) muß sichergestellt werden, daß vorrangig die Länder der Heimat- und Nachbarregion in der Lage sind, Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen Schutz zu gewähren (Regionalisierung der Flüchtlingsaufnahme). Dadurch wird einer dauerhaften Entwurzelung der Schutzsuchenden aus ihrer Heimat und Kultur entgegengewirkt und die Rückkehr erleichtert." (Arbeitspapier für die zuständige EU-Ratskommission, vom 19. März 1999)

Was die Arbeitsgruppe Mitte März als Entwurf formulierte, sollte wenige Tage später zum praktischen Leitkonzept europäischer Flüchtlingspolitik gegenüber den Kosovo-Albanern werden. Im Fall der Bosnier hatte man die Flüchtlinge noch vorübergehend aufgenommen, bevor man 200 000 von ihnen "rückführte", mit der Begründung, "daß sonst für künftige Krisensituationen keine Aufnahmekapazitäten vorhanden seien." (Schily).

Die wenigen tausend Albaner, die bislang in die BRD eingeflogen wurden, sind angesichts der gesamten Flüchtlingszahl dagegen nicht mehr als eine Art Tamagotchi fürs soziale Gewissen, das von Kirchengruppen mit Decken und Gartenmöbeln versorgt werden darf. Diese Flüchtlingspolitik, so die Arbeitsgruppe, "wird den Mitgliedsstaaten erlauben, mehr Mittel für die Beseitigung von Fluchtursachen zur Verfügung zu stellen". Denn: "Eine kohärente Asyl- und Flüchtlingspolitik (...) muß sich mit den Ursachen von Flucht und Migration und mit der Menschenrechtssituation befassen."

Für die Umsetzung sind in Albanien und Mazedonien Soldaten der Bundeswehr und Hilfsorganisationen wie Rupert Neudecks Cap Anamur verantwortlich. Neudeck lehnt mittlerweile kategorisch jede weitere Aufnahme von Kosovo-Flüchtlingen in Europa ab: Mit dem "Ausfliegen (würde) ein Signal (gesetzt), daß man den Kosovo nicht zurückhaben" wolle. Es solle nicht die "Erwartung geweckt (werden), es könnten am Ende Hunderttausende nach Mitteleuropa kommen".

In den Flüchtlingslagern, wo dank der Kanalisierung und Registrierung der Flüchtlinge keine Perspektive existiert - außer der, in die "Heimat" zurückzukehren -, werden europäische und US-Politiker dennoch jubelnd empfangen. Schließlich wissen die Kosovo-Albaner, daß wenigstens noch ihre Rückführung auf dem Programm steht.