Deutsche Spaßvögel

Judenspottkarten: Die Ausstellung "Abgestempelt" dokumentiert den ganz normalen Antisemitismus der Jahrhundertwende

Wann haben Sie zuletzt eine Postkarte verschickt? Oder, was noch interessanter ist: Wie haben Sie die Karte ausgewählt? Das Angebot ist kaum zu überschauen. Das ist heute so, und so war es auch zu Beginn des Jahrhunderts. Es gibt Urlaubskarten, (sehr bemüht) humoristische Motive, Kunstpostkarten zum Distinktionsspielen und vieles anderes mehr. Die Postkarte - ein Stück Populärkultur, normal wie das Fernsehen. Genau an diesem Punkt setzt die Ausstellung "Abgestempelt: judenfeindliche Postkarten" an, die derzeit im Museum für Post und Kommunikation und im Jüdischen Museum in Frankfurt a. M. zu sehen ist.

Für Ausstellungsmacher gibt es wohl kaum eine undankbarere Aufgabe, als Postkarten so in einem Raum zu verteilen, daß Besucherinnen und Besucher mehr als einen schweifenden Blick hineinwerfen und sich nicht sofort ins Museumscafé verziehen. Überdies ist dieser Schlauch im zweiten Stock des Museums für Post und Kommunikation, der für Wechselausstellungen vorgesehen ist, mindestens eine ausstellungsdesignerische Herausforderung. Die Räume werden noch enger gemacht. Hohe, schwarze Metallwände im Rücken, betrachtet man die an drehbaren Gestellen befestigten Exponate. Thematisch geordnet; wie am Kartenständer im Urlaub.

Auf einem Symposion wurde Ende Juni der Kontext markiert, in dem "Abgestempelt" zu sehen ist. Vorträge und Diskussionen beleuchteten den Zusammenhang der Entwicklung visueller Medien einerseits sowie (Dis-)Kontinuitäten von antisemitischen Codierungen andererseits. Diese, das wurde beim umfassenden Überblick deutlich, funktionieren in visuellen Medien oft durch Leerstellen. Ob Kunstwerk oder Massenartikel, stets wird auf Bilder zurückgegriffen, die - auch ohne Explikation im Bild - im Kopf der Betrachtenden ergänzt werden.

Ein frühes Beispiel lieferte Victoria Schmidt-Linsenhoff in ihrem Beitrag zum Motiv der "Schönen Jüdin" in der Genremalerei des 19. Jahrhunderts. Sie interpretierte eine weiße Fläche in Delacroix' Bild einer jüdischen Hochzeit in Nordafrika als eine solche Leerstelle. Fällt die Interpretation nicht in sich zusammen, wenn man den Titel wegläßt, der das Bild als Darstellung einer jüdischen Hochzeit ausweist? Schmidt-Linsenhoff konterte souverän und lieferte einen der Schlüsselbegriffe des Symposions. Gerade die Kontextualisierungen der Bilder wie Titel oder Erscheinungsort seien bei visuellen Medien stets mitzudenken. Der Rahmen also müsse in die Interpretation miteinbezogen werden.

Die zweite Leitlinie, die sich durch fast alle Vorträge zog, war die der Abgrenzung des Antijudaismus gegenüber dem modernen, durch rassistische anthropologische und biologistische Theorien geprägten Antisemitismus. Am dokumentierten Material läßt sich die Verknüpfung wissenschaftlicher, politischer und populärer Diskurse nachweisen.

So findet sich die militärische Ausgrenzungspraxis des wilhelminischen Deutschland in einer Fülle von Postkarten wieder, die Motive der Musterung bzw. des Einrückens zum Militär mit antisemitischer Ikonographie verbinden. Der Zugang zu militärischen Laufbahnen war bekanntlich eine der Kernfragen der Assimilation und Integration. Waren in Druckgrafiken und Fliegenden Blättern des frühen 19. Jahrhunderts jüdische Bewerber als unsportlich und ängstlich verunglimpft worden, so änderte sich die Darstellungen im Kaiserreich dahingehend, daß direkt auf den "jüdischen Körper" zurückgegriffen, die Untauglichkeit für den Militärdienst also als unveränderbar qualifiziert wurde. Die stereotypisierte Figur des "kleinen Cohn" wird von der Musterungskommission vermessen und wegen der geringen Körpergröße endgültig für untauglich befunden. Im kriegsbegeisterten Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs ein weiterer Schritt der Ausschließung aus der "Volksgemeinschaft", in die man sich so eifrig hineinphantasierte.

Die "Unveränderbarkeit" wird spätestens um die Jahrhundertwende zum feststehenden Topos im Zeichenrepertoire judenfeindlicher Darstellungen. Neben "Abgestempelt" diente ein weiteres Ausstellungsprojekt als Ausgangspunkt für Überlegungen zur Konstruktion des "Jüdischen" als wahrnehmungsprägender Grundstruktur des modernen, in Sonderheit des deutschen und österreichischen Antisemitismus.

Sander L. Gilman, als Geisteswissenschaftler an der medizinischen Fakultät der Universität Chicago tätig, sprach von den Wechselwirkungen des konstruierten "jüdischen Körpers", einer Vorstellung, die vor allem die westeuropäischen Juden derart verinnerlicht hätten, daß sie - durch die große Nachfrage nach "Angleichungen" und "Korrekturen" von Nasen, Ohren und Brüsten als einer Spielart "jüdischen Selbsthasses" (Gilman) - der kosmetischen Chirurgie zum Durchbruch verholfen hätten.

"Der schejne Jid" hieß eine Ausstellung, die im vergangenen Herbst in Wien zu sehen war und in der gezeigt wurde, wie die "wissenschaftliche" Unterfütterung antijüdischer Stereotype auf das dann antisemitische Zeichenrepertoire sowie auf das Selbstverständnis der sogenannten Westjuden wirkte. "Juden sind 'häßlich'", schrieb Gilman im Begleitband, "und diese Häßlichkeit ist ein Maßstab für ihren Charakter, der in ihren Körper eingeschrieben ist. (...) Die Juden sind keine 'schöne Rasse'; diese Überzeugung resultiert zumindest aus den physiognomischen Theorien der westlichen Kulturen, in denen Juden lebten. Doch mehr noch - die Häßlichkeit des Körpers und der Seele sind Krankheitsmerkmale."

Der Komplex Krankheit / Gesundheit ist in die dichotomische Struktur des imaginierten "Volkskörpers" integriert. Postkarten und Karikaturen als Teile der Alltagskultur sind mithin weniger Propagandamaterial als Element einer Selbstvergewisserung - "der Jude" als "innerer Feind" erweist sich einmal mehr als konstitutiv für die Nation. Der Blick auf Grußkartenständer und in Operationssäle führt aus ungewohnter, alltagsgeschichtlicher Perspektive das Bild von der deutsch-jüdischen Symbiose ad absurdum.

Der Höhepunkt der Tagung war ein Beitrag Jürgen Müllers, in dem er entgegen der entpolitisierenden Tendenz gegenwärtiger Murnau-Forschung "Nosferatu" neu und sehr anders las. Er arbeitete zum einen die strukturelle Gemeinsamkeit des Nosferatu und der mythischen Figur des "Ewigen Juden" heraus, die beide - Stichwort: unveränderbar - zur Unsterblichkeit außerhalb des (christlichen) Heilsversprechens verdammt seien. Zum anderen folge die Bildsprache und die gegenüber der Vorlage von Bram Stoker deutlich veränderte Erzählstruktur antisemitischen Stereotypen wie dem Topos von der "Weltverschwörung". Überzeugend auch das Zusammenlesen von Film, Drehbuch und der Werbestrategie, mit der "Nosferatu" 1922 auf den Markt kam.

Pop eben. Die Bildsprache der Plakate etc.? Na, was wohl? Genau. Auch die Krankheitsmetaphorik findet sich hier wieder. Etwa, wenn Nosferatu die deutsche Stadt Wisbork mit der Pest konfrontiert. Es seien, so Müller, so viele Ratten-Bilder zu finden, daß er Fritz Hippler, den Regisseur des NS-Propagandafilms "Der ewige Jude", angerufen und gefragt habe, ob er sich von Murnau habe inspirieren lassen. Der habe sich - Leni läßt grüßen! - kaum erinnern können. Nur, daß Goebbels den Film eigenhändig geschnitten habe, da sei er sich ganz sicher.

Bedauerlicherweise blieb die aktuelle Dimension visuell vermittelter antisemitischer Codes ein wenig außen vor. Der Oldenburger Kunsthistoriker Detlef Hoffmann blieb der einzige, der einen Beitrag dazu lieferte. Der fiel dafür um so spannender aus. Ohne aus "Batman's Return" von Tim Burton einen antisemitischen Film zu machen, zeigte er, wie zeitgenössische Popkultur auf antisemitische Ikonographie zurückgreift. In diesem Fall, um die Figur des Pinguins (Danny DeVito) als Vertreter des Bösen herauszustellen. Kann das? Darf das? Weiterdenken erwünscht!

Bleibt die Frage, ob Montgomery Burns, der Ultrakapitalist in den "Simpsons", ein Stereotyp ist oder dies gerade unterläuft. Und warum ist der geldgeile Clown Krusty - natürlich - ein jüdischer Komiker? In der Postmoderne ist eben alles unsicher.

Ach ja. Die Urlaubsgrüße im Titel beziehen sich übrigens auf eine Reihe von Urlaubskarten, mit denen begehrte Reiseziele wie Karlsbad, Marienbad oder Borkum das touristische Image aufzubessern versuchten. "Borkum, der Nordsee schönste Zier", heißt es im "Borkum-Lied" von 1900, "Bleib du von Juden rein". Echte deutsche Spaßvögel.

"Abgestempelt: Judenfeindliche Postkarten" ist noch bis zum 1. August im Jüdischen Museum Frankfurt a. M. und bis zum 15. August im Museum für Post und Kommunikation zu sehen. Der Katalog erschien bei Umschau/Braus in Heidelberg und kostet DM 39.