Jetlag der Jugend

Zu Besuch bei den betulich lieblosen Eltern in Bielefeld - Ralf Bönt läßt einen etwas wehleidigen Repräsentanten der Generation "Icks" zu Wort kommen

In dem Film "Die unglaubliche Reise in einem verrückten Flugzeug" spielt Robert Hays einen Vietnam-Veteranen, der mit seiner Vergangenheit nicht klarkommt. Jedem im Flugzeug erzählt er seine Lebensgeschichte, aber niemand will sie hören. Eine Frau muß kotzen, eine andere hängt sich auf, und ein Mann übergießt sich gerade mit Benzin, um sich anzuzünden, als der Ex-Kampfpilot gebeten wird, das Steuer zu übernehmen. Der Mann neben ihm hatte Glück. Das kann man von Icks' Sitznachbarn nicht behaupten.

Icks, Protagonist von Ralf Bönts gleichnamigen Debüt-Roman, ist mit dem Flugzeug nach New York unterwegs. Dort soll er einen Vortrag halten, das erste Engagement seit Jahren. Er ist schon ein bißchen betrunken, trotzdem bestellt er für sich und seinen Sitznachbarn einen Whiskey nach dem anderen. Das, was Icks erzählt, wäre sonst wohl auch schwer zu ertragen. Er leidet nämlich, wie er selbst sagt, darunter, keinen klaren Gedanken fassen zu können.

Reichlich konfus sprudelt es dann auch aus ihm heraus. Während er Deutschland hinter sich läßt, beginnt er dem Fremden die Geschichte einer anderen Reise zu erzählen, die ihn von Berlin nach Bielefeld, seiner Heimatstadt, "Ostwestfalenmetropole", "Dr. Oetker-City", Synonym für deutsche Provinzialität, geführt hat und gewissermaßen die Vorgeschichte seiner USA-Reise ist.

Nach zehn Jahren will er seine Eltern besuchen. Die Konfrontation mit der Kindheit ist unausweichlich. Lange hat er die Begegnung gescheut, aber jetzt muß es sein. Icks ist gerade Vater geworden, und der Sohn fängt schon an zu laufen. Bald wird er Fragen stellen, und dann muß Icks die passenden Antworten parat haben.

Zuerst steht Icks noch etwas unentschlossen auf dem Bahnhofsvorplatz, er überlegt lange, und schließlich nimmt er die Stadtbahn Richtung Elternhaus, wo man "wieder zum dummen Kind gemacht werden sollte, in dem man mir eine belanglose Frage stellt und mich ruhig und demonstrativ gelassen antworten läßt und dann drauf bloß gelassen schweigt, um damit zu fragen: Und, was hast du erreicht?"

Erreicht hat er nicht viel. In seinen Studienorten, Köln, Hamburg, München und Tübingen, hat er die Nach-Nachkriegszeit erlebt. Konstanz allerdings hätte ihn fast umgebracht, weil ihm "das Schöne, das schlichte Gute" zuviel geworden war. Das Studium erfüllt seine Hoffnungen nicht, und auch der Abschluß verhilft ihm zu keinem festen Job. Immer weitere Abstriche muß er machen und sich von jugendlichen Erwartungen verabschieden. Davon darf er zu Hause natürlich nichts sagen, man will Erfolgsmeldungen hören. Schließlich hat der Vater mit 30 schon das Haus gebaut. Und weil Icks nichts dergleichen vorweisen kann und seine Pläne, Theaterregisseur zu werden, belächelt werden, bleibt er irgendwann weg.

Mit 33 beschließt er also zurückzukehren, um abzuschließen mit der Vergangenheit. Lange bleiben will er nicht, nur ein paar Stunden, bis der Zug zum Frankfurter Flughafen fährt und er die Maschine nach New York besteigt. Kaum zu Hause angekommen, werden alle Befürchtungen Wirklichkeit. Ob er denn immer arbeitslos bleiben wolle, fragt die Mutter. Gleichaltrige würden sich im Gegensatz zu ihm prächtig entwickeln. Der Vater lobt den Doktortitel, obwohl er nicht weiß, was man damit anfangen soll. Wenigstens fällt nicht noch der dumme Spruch, daß jeder, der arbeiten will, auch Arbeit bekommt. Icks ist zunächst erleichtert.

In einem rasanten Monolog rekapituliert Flugpassagier Icks nochmal die Stationen seines Scheiterns, er erzählt die Geschichte vom nicht gegebenen Elfmeter, vom Nazilehrer, der ihm "ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden" zum Vorwurf gemacht hatte, und von Auschwitz, von dem er lange nicht wußte, wo es liegt, weil es ihn nicht wirklich interessiert hat und zu Hause nie darüber geredet wurde. Er unterbricht sich nur, um Whiskey zu trinken oder sich neue Zigaretten zu drehen. Der Nachbar trinkt mit, sieht aus dem Fenster und kommt selten zu Wort.

Icks spricht unbeeindruckt vom Desinteresse seines Zuhörers munter weiter. Was zunächst zusammenhanglos erscheint, spitzt sich nach und nach zu einer Abrechnung mit den Eltern zu. "Sollen sie von ihrem Wahnsinn sprechen, meinetwegen, von ihrem Wahnsinn, ihrem Wahnsystem, von ihrer Hilflosigkeit meinetwegen am besten, ihrer Sprachlosigkeit und Heimatlosigkeit oder der Unfähigkeit, etwas auszuhalten, vom Irrwitz der Welt, von ihrer heillosen Liebe zu etwas zu schweigen, und ganz egal zu was überhaupt, aber was mich ankotzt, ist ihre Betulichkeit - ihre betuliche Lieblosigkeit." Versager nennen sie ihn, Versager nennt er sie. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hätte er Kind bleiben sollen, "damit ihr eigenes Unglück nicht weiter auffällt".

Icks ist der etwas wehleidige Repräsentant der seit Douglas Coupland in die Jahre gekommenen Generation X. Seine Geschichte ist zugleich auch die Westdeutschlands und die des Umgangs mit der Nachkriegsgeneration. Mit dem Besuch des Elternhauses nach zehn Jahren, glaubt Icks seine Vergangenheit endlich bewältigt zu haben. Er fühlt sich der Familie entwachsen, "leben gilt ja erst jetzt". Die Jahre zuvor waren nur zugebracht. Seine Jugend sei ein einziges Verhör gewesen, mit dem Ziel, "daß der Angeklagte die Vorwürfe am Ende selbst glaubt". Es hätte alles so einfach sein können, wenn er sich nur ein bißchen angepaßt hätte, dann hätte er leben können "und Freunde haben und so weiter, alles ganz normal".

Statt dessen hat er sich gequält und quält sich weiterhin. Eigentlich hat sich nichts verändert. Das Erinnern ist für Icks Zwang und Ausweg zugleich. Er will einen Zugang finden zu seinen Eltern, um es seinem Sohn leichter zu machen. Icks kramt in seinen Erinnerungen und fixiert sich auf die besonders unglücklichen Momente seines Lebens. Immer wieder holt er diese Bruchstücke aus dem Gedächtnis hervor, um sie auf ihre Bedeutung hin zu überprüfen. Bis zum Schluß ist er voller Haß. Und selbstmitleidig den Tränen nahe. Er redet sich nur ein, die Vergangenheit bewältigt zu haben und behauptet, daß "man halt einmal mit Auschwitz brechen müsse, endgültig".

Auschwitz ist hier Chiffre für das Nicht-Vergessen-Können. Und was die Eltern totgeschwiegen haben, verbalisiert Icks auf penetrante Weise: die eigene Geschichte. Für sich und seinen Zuhörer überschreitet er beim Reden immer wieder die Grenze des Erträglichen. Der Nachbar hängt sich zwar nicht auf oder sucht sein Leben auf andere Art zu beenden, aber ihm schwindelt. Und Icks schläft vor Erschöpfung ein.

Ralf Bönt, Jahrgang 1963, führt einen Menschen vor, der an seiner verlängerten Jugend verzweifelt ist. Icks' Unfähigkeit, einen klaren Gedanken fassen zu können, konkurriert mit dem Wunsch nach Präzision der Wahrnehmung. Es gelingt ihm nicht, eine Ordnung der Dinge herzustellen. So kommt er vom Hundertsten ins Tausendste, von den "Hitlerautobahnen" zur "Bettnässerei", von der Sachbearbeiterin im Arbeitsamt zum "Kalten Krieg". Konsequent wird diese Verwirrung auch sprachlich durchgehalten, manche Sätze werden nicht zu Ende gebracht oder gehen beziehungslos ineinander über.

Icks redet, wie er denkt. Oder besser: Bönt schreibt, wie Icks redet. "Icks" ist ein Protokoll, die Verschriftlichung einer Tonbandaufnahme. Das macht den Text schnell, aber anstrengend. Nebensächlichkeiten werden breit getreten und durch Einschübe unnötig verlängert. Icks' chaotisches Gelaber geht notwendigerweise auf die Nerven. Die vielen Wiederholungen sollen Erinnerungsmuster noch verstärken und scheinbar Unzusammenhängendes assoziativ miteinander verknüpfen. Als Hörspiel mag die sich steigernde Hysterie voll zur Entfaltung kommen, gelesen geht die Wirkung während der Lektüre verloren, und der heftige Gefühlsausbruch des Helden verliert an Intensität, es entsteht Leerlauf.

Bönt hat mit Icks einen Charakter geschaffen, der das Unbehagen seiner Generation idealtypisch zum Ausdruck bringt. Der Wille nach vollkommener Vergangenheitsbewältigung treibt ihn um, aber zugleich weiß er um die Unmöglichkeit dieses Unterfangens. Einer wie Icks kann reisen, wohin er will, immer tritt er auf der Stelle. Und auch in diesem Buch geht es bald weder vor noch zurück. Seine Generation leidet, wie Icks zusammenfaßt, an einer "komischen Sehnsucht, die sich so breit gemacht hat und eigentlich nichts anderes als ein Heimweh ist".

Ralf Bönt: Icks. Piper, München 1999, 170 S., DM 29,80