Ich will mich selbst überraschen

Der 1930 in Paris geborene Chabrol zählt zu den Begründern der Nouvelle Vague. In seinen Filmen - u.a. "Schrei, wenn du kannst" (1959), "Die Unbefriedigten", (1959/1960), "Der zehnte Tag" (1971), "Die Phantome des Hutmachers" (1982) u.a. - studiert Chabrol die Alltagspathologie des Bürgertums. Sein neuester Film "Die Farbe der Lüge", der gerade in Deutschland angelaufen ist, führt in eine bretonische Kleinstadt, in dem ein 11jähriges Mädchen mißbraucht und erdrosselt aufgefunden wird. Die Provinzler haben sich schnell auf einen Verdächtigen geeinigt. "Die Farbe der Lüge" ist Chabrols 51. Regiearbeit.

In Ihrem neuen Film "Die Farbe der Lüge" geht es, wie immer bei Ihnen, um Charaktere. Aber daneben gibt es auch noch einen Detektiv. Welchen Zweck erfüllt er? Ermittler oder Priester der Wahrheit?

Es ist interessant, daß Sie den Detektiv ansprechen. Er hat, was bei mir selten passiert, eine andere Funktion, als seinen Charakter zu zeigen. Er stellt sich in den Dienst einer Sache - seiner Ermittlung. An solchen Sachen bin ich eigentlich weniger interessiert.

Also ein einfacher Ermittler?

Das ist mir zu einfach. Er ermittelt, das ist wahr, er versucht auch, der Wahrheit zu dienen. Aber natürlich hat auch solch ein Ermittler eine Geschichte. Diese Geschichte versuche ich Stück für Stück zu enthüllen.

Ich habe das Gefühl, daß bei jedem neuen Film, den Sie vorlegen, die Story ein bißchen mehr in den Hintergrund tritt. Der Liedermacher Herman van Veen hat mal gesagt, daß er es schaffen möchte, mit immer weniger Mitteln immer mehr zu erreichen.

Wenn ich dieses Zitat auf mich anwenden wollte, würde es bedeuten, daß ich früher spannendere Filme gemacht habe als heute und mich heutzutage mehr auf die Charaktere konzentriere.

Stimmt das nicht?

Nein, ich habe noch nie spannende Filme gemacht.

Aber wenn ich an Filme wie z.B. "Die Phantome des Hutmachers" denke ...

... dann ist das vielleicht Ihre Sicht auf die Dinge, aber nicht meine. Was Sie als Spannung empfinden, ist für mich ein Effekt, der eintritt, nicht einer, den ich anstrebe. Eine spannende Geschichte - das ist für mich dasselbe wie meine Landschaftsaufnahmen bei meinem neuen Film. Zu Beginn sieht man einige Landschaften, damit man merkt, wo der Film spielt. Später beschränke ich mich auf wenige Sekunden eines Gewässers oder eines Grundstücks. Die Spannung muß zu diesem Zeitpunkt bereits aus den Figuren entstanden sein. Wenn das nicht funktioniert, ist es kein guter Film.

Ein Claude-Chabrol-Action-Film wäre also nicht vorstellbar?

Um Gottes willen, warum sollte ich so etwas tun? Bei einem Action-Film haben die Figuren überhaupt keine Zeit zu überlegen, nachzudenken, was sie als nächstes tun wollen. Das wäre für mich ein absoluter Horror.

Vor diesem Film sprachen Sie davon, einen ganz anderen Film machen zu wollen.

Und nun wundern Sie sich, daß es wieder ein typischer Chabrol geworden ist?

Irgendwie schon.

Was ich vor meinen Filmen sage, ist doch nichts weiter als eine Absichtserklärung. Woher soll ich wissen, was es wirklich wird? Ich habe nur einen Wunsch vor jedem Film: Ich möchte mich beim Arbeiten wie ein Fisch im Wasser fühlen. Ein Fisch, für den jeder Tag etwas Neues bringt. Bloß keine Routine! Ich will mich selbst überraschen. Alles andere ergibt sich von selbst.

Aber der Ansatz von "Die Farbe der Lüge" ist schon ein anderer als bei früheren Filmen.

Aber kein völlig neuer in meinem Schaffen.

Das stimmt, es ging schon früher bei Ihnen um Lüge und Wahrheit. Gibt es denn die Wahrheit im Film?

Was heißt Wahrheit? Ich würde allerhöchstens sagen, daß ich versuche, meine Wahrheit zu zeigen. Und das heißt für mich: wahre Bilder. Ich würde niemals schöne Bilder zeigen, da sie von den Charakteren ablenken, und das ist nicht in meinem Sinne. Ich versuche, Menschen zu zeigen, ihre Geschichten zu erzählen. Und aus diesen Menschen muß dann die Wahrheit entstehen, so, wie ich sie zeige. Das ist mein Weg.

Nun gibt es ja alle paar Jahre Versuche, von den Täuschungen im Kino abzulenken. Aber auch ganz aktuelle - wie die dänische Dogma-Bewegung.

Ich mag das Wort "Dogma" überhaupt nicht. Es klingt nicht schön und impliziert etwas Falsches. Aber generell begrüße ich diese Bewegung. Sie bringt neues Leben ins dänische Kino, und das ist gut. Für Dänemark und das europäische Kino. Aber ich glaube nicht, daß die Dänen der Wahrhaftigkeit wirklich ein Stück näher kommen. Was steht in den Statuten? Man darf keine Szenen beleuchten! Und was macht Vinterberg in "Das Fest"? Er beleuchtet doch. Und überhaupt, irgendwann kommt wer auf die Idee zu sagen, daß die Kamera nur noch auf dem Boden oder auf dem Tisch zu stehen hat. Und das ist dann der neue Ansatz? Ich weiß ja nicht.

Wenn ich Ihren neuen Film richtig verstehe, dann zeigen Sie die Lüge, aber Sie verurteilen nicht den, der lügt. Ab wann ist eine Lüge so schlimm, daß man sie verurteilen muß?

Diese Frage habe ich mir auch gestellt, vor Jahren schon. Und ich muß sagen, daß ich darauf keine Antwort weiß. Bei meinem neuen Film ist es aber etwas anderes. Da weiß ich die Antwort wohl. Wenn sich nämlich jemand in die Lüge so verstrickt, daß er die Orientierung verliert, wenn er nicht mehr weiß, was Lüge und was Wahrheit ist, dann ist die Grenze überschritten.

Ich denke, daß diese Grenze heutzutage im Alltag nicht mehr auszumachen ist.

Da gebe ich Ihnen auf jeden Fall recht. Unsere heutige Gesellschaft ist so unüberschaubar und orientierungslos, daß man sich in ihr schwer zurechtfindet. Mit einer Lüge läßt es sich oft besser leben. Was nicht heißen soll, daß ich die Lügen rechtfertige. Aber wenn man es recht betrachtet, dann wachsen wir alle in einem Lügengeflecht auf. Oder wie würden Sie die Geschichte vom Weihnachtsmann einordnen?

Wir sprachen vorhin über Dogma, eine Bewegung, die unter anderem ins Leben gerufen wurde, um den europäischen Film besser zu vermarkten. Dieser Markt- oder Wettbewerbssituation muß sich ein Claude Chabrol sicher nicht mehr aussetzen. Aus welchen Gründen machen Sie immer noch Filme? Woody Allen sagt, er habe immer 30 bis 40 Drehbücher zu liegen Ö

Mr. Allen ist ein guter Lügner. Ich glaube ihm kein Wort. Aber es gibt schon etwas, was uns beide verbindet. Wir sind seit Jahrzehnten im Geschäft. Wenn man das so viele Jahre lang getan hat, dann gönnt man sich zwischen den einzelnen Projekten schon Zeit für sich selbst. Bei mir ist es aber so, wenn sechs Monate rum sind: Ohne ein neues Projekt wird es mir langweilig, und ich fange wieder an, mich mit etwas zu beschäftigen. Außerdem dreht sich das Rad der Zeit immer weiter, und man möchte wissen, ob man noch immer einen guten Film machen kann, ob es einem gelingt, mit den jüngeren Kollegen mitzuhalten.

Allzu lange wollen Sie mit Ihrem nächsten Projekt wohl nicht warten. Es heißt, Sie würden eine Komödie drehen wollen?

Das ist nicht ganz richtig. Obwohl ich nicht ausschließen will, daß es bei diesem Film lustig zugehen wird. Die Grundidee ist folgende: Ein Mann wird als Geisel genommen und muß drei Wochen in einem Schrank verbringen. Dort bekommt er nur Wasser, aber keine Nahrung. Und fast der gesamte Film soll im Schrank spielen.

Klingt nach einer Idee für einen Dogma-Film.

Könnte sein, aber es wird ein Chabrol-Film.

Das Interview erschien zuerst in Kreuzer, Nr. 8/1999