Der Wille zum Stil

Jazz aus dem Polen der Sechziger und Siebziger hört sich nicht nur gut an - er sieht auch gut aus

Jede Retro-Bewegung beginnt auf dem Flohmarkt. Das war mit Easy Listening so, das Achtziger-Jahre-Electro-Revival kam daher, und auch die Wiederveröffentlichungen von osteuropäischem Jazz dürften ihren Beginn in den Kisten voller Amiga-, Melodiya- und Polskie Nagrania-Pressungen an den Ständen bärtiger Mittvierziger gehabt haben. Keiner will es haben, was mag es wohl sein. Einige DJs fangen an, sich dafür zu interessieren und mixen die Platten mit James Last, andere, wie in diesem Fall Jazzanova, ein Zusammenschluß von einigen Berliner DJs und Produzenten, mit House, Downtempo und Bossa Nova.

Und Jazzanova spielen die Platten nicht nur, sie gründeten gleich ein Wiederveröffentlichungslabel, gaben den Stücken eine neue Verpackung, versahen sie mit Liner Notes und brachten sie neu auf den Markt. Auf Vinyl für die einen, mit anderer Covergestaltung als CD für die anderen.

Und die Musik hört sich nicht nur gut an, sie sieht auch gut aus. Die Wiederentdeckung von polnischer Jazz-Musik aus den Sechzigern und Siebzigern repräsentiert vor allem eines: Stilbewußtsein. Und dies wiederum leuchtet besonders deshalb so hell, weil es aus Osteuropa kommt.

Denn wenn es in Europa ein schwarzes Loch der Subkulturen gibt, dann im Osten. Wenige in Westeuropa wissen, was im Osten für Musik läuft, kaum einer hält es für wirklich wichtig. Wenn einem eine aktuelle polnische HipHop-Platte über den Weg rollt, wird sie vor allem auf ihren Obskuritäts-Grad hin angehört oder daraufhin untersucht, welches westliche Modell denn da wohl Pate gestanden haben mag.

Das einzige, was als sicher gilt, ist, daß jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs Modelle jugendkultureller Abweichung immer noch von Heavy Metal und Punk dominiert werden. So geht zumindest das Gerücht, und das verwundert auch kaum, fällt es doch mit dem anderen zusammen, daß in Osteuropa Jugendlich samt und sonders arbeitslos sind und auch sonst fun eher ein Fremdwort ist. Und für die Musik der Vergangenheit gilt Ähnliches.

Dabei hat Polen eine der längsten Jazztraditionen Europas und mit dem alljährlichen Jazz Jamboree in Warschau eines der größten und renommiertesten Jazzfestivals von Osteuropa. Eine Tradition, der sich die Compilation "Polish Jazz: Modern Jazz From Poland 1963-1975" widmet. Da gibt es den Mittsechziger Hardbop in der Nachfolge von Horace Silver, wie ihn das Andrej Kurylewicz Quintet spielt, Hammond-Orgel-Cocktail-Musik von Wojciech Karolak und die psychodelische Klänge Jerzy Milians, die sich anhören als seien sie Teil eines cheesy Filmsoundtracks.

Und mit den Novi Singers, die die Platte "Vocal Jazz From Poland 1965 to 1975" bespielen, gab es eine Vocalgruppe, die sich mit keiner westlichen Gruppe vergleichen läßt, weil sie tatsächlich einen ganz eigenen Sound hatte. Sie war mit einer Sängerin und drei, später zwei Sängern besetzt. Die Arrangements ihrer Stücke waren streng und ließen für Improvisationen keinen Platz. Allerdings war ihr Gesangsstil etwas besonderes. Er war entfernt anderen Arten des Jazz-Gesangs verwandt, wie etwa dem Scat, aber eben nicht improvisiert, sondern arrangiert.

Neben ihren Stimmen spielten die Novi Singers auch Instrumente, meist nutzten sie jedoch andere Jazzgruppen als Backingbands. Und während sich der Begleitsound in den zehn Jahren ihres Schaffens ändert und in den Siebzigern auch Einflüsse von Beat-Musik und Psychodelica dazukommen, bleiben die Gesangsarrangements erstaunlich gleich. Das tönt manchmal wie eine Roy Ayers-Vorwegnahme, ist aber eher eine polnische Variante von ähnlichen Gesangs-Arrangements wie im Bossa Nova, der seine Spuren auf beiden Platten hinterlassen hat. Lediglich auf zwei Stücken singen die Novi-Singers einen Text.

Die Verbindung der Novi Singers zu Bossa Nova ist kein Zufall, gab doch der Erfinder des Jazz-Brasil-Crossover, der amerikanische Tenorsaxophonist Stan Getz, in den Sechzigern eine Reihe von Konzerten in Polen und beeinflußte die polnische Szene stark. Daß diese polnischen Versuche, US-amerikanische Verschmelzungen verschiedener Stile in polnische Verhältnisse zu transponieren, wiederum in diesen Tagen bei deutschen Hipstern auf offene Ohren trifft, ist genausowenig zufällig, denn der Ansatz von Jazzanova House und Downtempo mit Jazz zu verbinden, hat auch einen starken Hang zu lateinamerikanischen Rhythmen.

Doch obwohl sich die beiden Platten als repräsentative Auswahl geben, ist eine wichtige Facette des polnischen Jazz ausgespart: die Freie Musik. Genau wie in der DDR gab es auch in Polen eine starke Strömung von Musikern, die sich an den Modellen versuchten, die vom amerikanischen Free Jazz inspiriert waren. Politisch codiert gerade in den Ländern des sozialistischen Lagers. Freie Improvisation war ein Statement auf der Suche nach dem befreiten und emanzipierten Individuum, sie kanalisierte Energien, die sich Arrangements gleichwelcher Art nicht mehr unterordnen wollten.

Mit Stylishness hatte das allerdings wenig bis gar nichts zu tun. Es ging um Befreiung, nicht darum, besser auszusehen. Es gab Bier statt Cocktails, Jeans statt Anzügen, schwarze T-Shirts statt weißer Hemden - kurz: Innerlichkeit statt Oberfläche. Und all das fand zur gleichen Zeit statt wie die Musik, die "Polish Jazz" dokumentiert und war Teil der gleichen Szene.

Die Novi Singers allerdings waren polierte Oberfläche und ihre Musik das Gegenteil von jedem Versuch freier Improvisation. Von daher erstaunt das Fehlen von grunzenden Saxophonkaskaden nicht.

Die Wiederveröffentlichungen sind nicht der erste Versuch, osteuropäische Musik neu verpackt zu lancieren. Vor einigen Jahren war es neu kompilierte Beatmusik aus der DDR. Versehen mit einem Obskuritätenbonus, ergab der Ostbeat im Zuge der Easy-Listening-Welle eine gute Ergänzung zu nachgestellten Partykellern aus dem Westdeutschland der Siebziger und paßte zu Second Hand-Klamotten, die noch Zugfahrkarten von Moskau nach Leningrad in der Tasche stecken hatten. Voll schrill, voll anders, voll merkwürdig.

Jazzanova versuchen es anders. Sie setzen auf die Stilsicherheit, mit denen zum einen die Musik die Stile der Vorbilder adaptiert, und zum anderen auf die wunderschönen Coverfotos. Denn die polnische Jazz-Szene hat mit Marek Karewicz einen Fotografen, der sie seit Jahrzehnten dokumentiert. Karewicz ist gleichzeitig der Organisator des Warschauer Jazz Jamborees. Und seine Fotos verhalten sich zu der Ikonographie der Blue Note- oder Prestige-Plattencover genauso wie die abgebildeten Musiker zu den Musikern der amerikanischen Platten. Sie stellen die Posen nach, aber nicht, ohne ihnen einen besonderen Twist zu geben.

Da ist der Bassist, der aussieht wie der kleine Bruder von Thelonius Monk, nur daß er nicht auf irgendeinem glamourös aufgeladenen New Yorker Pflaster steht, sondern auf einer leeren Warschauer Straße. Oder die Novi Singers, die fingerschnipsend durch den Wald spazieren oder lächelnd an einer Wand lehnen. Jedes Bild ist Wille zum Stil.

Novi Singers: "Vocal Jazz from Poland 1965-1975" und "Polish Jazz: Modern Jazz from Poland 1963-1975" (LP)

"Go Right: Jazz from Poland 1963-1975" (CD). Die CD enthält alle Stücke der beiden LPs. Die Platten sind bei Jazzanova Compost Records/PP Sales Forces erschienen.