Immer in die Fresse

Aus einem Gespräch zweier älterer Herren über den Schriftsteller Witold Gombrowicz.

Bohlens und Ripplingers Dialog über den polnischen Schriftsteller Witold Gombrowicz ist am 26. April 1989 von Radio 100, Westberlin, gesendet worden. Die nachfolgend kursiv gesetzten Passagen entstammen dem Werk von Gombrowicz; zitiert wird nach der Ausgabe des Hanser-Verlages, München. (d.Red.)

Stefan: Immer bei C beginnen und dann nach vorne oder hinten weiterbuchstabieren, bis das Alphabet selber nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht. Oder bei F anfangen, nur eins nicht: Beginne nie mit A. Beginne Ö mit F. F wie Fresse. Ich werde ein anderes, wunderlicheres Abenteuer erzählen...

Heute morgen kam ich nach Hause und war uralt. Ich stellte mich vor den Spiegel und blickte in meine faltige Fresse. Dann ließ ich über diese Fläche, diese Leinwand, alle Fressen der vergangenen Nacht paradieren. Ich zeigte mir alle Fressen, die mir nachts das Gespräch mit dieser oder jenem gemacht hatte. Ich zeigte mir: vorgebliches Interesse, zurückgehaltenes Begehren, gepflegte Langeweile, moralisches Erschrecken, kultiviertes Amüsement Ö usw. Über diese Häßlichkeit mußte ich lachen. Bitte, bitte, lieber Hermann, nun sehen Sie mich nicht so an!

Hermann: Aber, Stefan, lieber Freund, Sie hätten die abgefeimte Unschuld sehen sollen, die sich soeben auf Ihrer Fresse ereignete! Köstlich! Es gibt einen Irrtum, dem alle erliegen. Jeder glaubt, er sei sein Gesicht. Man weist sich durch die Fotografie seines Gesichtes aus. Finden Sie nicht auch: Die Fresse ist das Körperteil, das einem am wenigsten gehört. Das Gesicht ist nichts anderes als mannigfaltige Einprägung, Abschürfung, Mimikry und schlechte Schauspielerei. Ein bemerkenswerter Abschnitt unserer Körperoberfläche.

Ich entdeckte etwas darüber bei diesem polnischen Autoren, den Sie mir damals zusteckten, Witold Gombrowicz. Möchten Sie das hören?

Stefan: Ich bin ganz Ohr.

Kommt, kommt heran, ihr Fressen! (Ihr) fremden und unbekannten Visagen fremder unbekannter Kerle, die ihr mich lesen werdet, seid gegrüßt, gegrüßt seid, ihr reizenden Bündel von Körperteilen (Ö) - kommt und tretet an mich heran, beginnt euer Geknete, schafft mir eine neue Fresse, daß ich wieder vor euch werde ausreißen müssen in andere Menschen und rennen, rennen durch die ganze Menschheit. Denn es gibt keine Flucht vor der Fresse als nur die in eine andere Fresse, und vor dem Menschen kann man keine Zuflucht nehmen, außer in die Arme eines anderen Menschen. Vor dem Popo aber gibt es überhaupt keine Flucht. Verfolgt mich, wenn ihr wollt. Ich fliehe mit der Fresse in den Händen. ("Ferdydurke")

Stefan: Der Mensch schafft den Menschen. Ein Deformierungsakt, aber ein unvermeidlicher. Sehen wir alles im Zeichen unvermeidlicher Körperteile, sehen wir alles als Abrichtung, Zurichtung, Fresse, Popo. Wie aber kommen Sie von der Fresse zum Popo, Herr Kollega?

Hermann: Ja, wissen Sie, das ist ein langer Weg. Ein Urwald aus Körperteilen - so erschien mir das Werk des Herrn Gombrowicz. Wochenlang irrte ich darin umher, zunächst orientierungslos, mich im Kreise bewegend. Ohren, Zehen, Hände, Augen, Zähne, Waden, Haare usw. - die vollständige Liste aus dem Leichenschauhaus, seltsam zuckende Teile, wie Lianen hingen sie um mich herum. Ich streckte die Hand aus. Und schon hielt ich etwas - ein Ohr, eine Lippe, eine Nase oder einen Finger. Ich schwang mich daran fort, ließ los, griff zum nächsten, ließ los, griff, schwang, griff und fort und fort, immer weiter und weiter hinein in das Gewirr.

Unser Geist fischt aus dem aufgewühlten Ozean der Erscheinungen irgendeinen Teil, sagen wir, ein Ohr oder ein Bein, und schon drängt sich uns am Anfang unseres Werks ein Ohr oder ein Bein in die Feder, und dann kommen wir nicht mehr aus dem Teile heraus, wir schreiben ihm seine Fortsetzung, und er diktiert uns alle übrigen Glieder. ("Ferdydurke")

Stefan: War es nicht so, lieber Freund, erst verloren Sie sich im Gewirr der Körperteile, dann gingen Sie ihnen ins Netz. Sie bemerkten, wie die abgeschnittenen Glieder einen Verbund bildeten, ein System, einen Text, durch aufdringliche Analogien aufeinander bezogen. Fresse wird aus Fresse, und Fuß weist auf Popo. In dieser neuen Anatomie wächst aus den wulstigen Lippen eine Wade, attraktives Zeichen und hartnäckige Obsession des angeekelten und gleichzeitig berauschten Dichters.

Hermann: Hartnäckige Wade, attraktive Wade, Wade der Modernen Oberschülerin. Glatt, gebräunt, hart, aus weißer Tennissocke emporsteigend. Durch die Weiten von Gombrowiczs erstem Roman "Ferdydurke", 1937 in Polen erschienen, trimmtrabt die Wade.

Armer Gombrowicz! Wie sehr muß ihn nach dieser Wade gelüstet haben, wie sehr muß ihn dieses Leuchten geblendet haben, und, zack!, schon hat sie ihm eine Fresse gemacht, sie wollte ihn nicht.

In seinen "Polnischen Erinnerungen" pflichtet er seinem Kollegen Bruno Schulz bei, der über "Ferdydurke" sagte, daß dieser Roman die Frucht zahlreicher und schwerer persönlicher Erlebnisse gewesen sein mußte.

"Die Beine", sagte er, zur Neuzeitlichkeit aufreizend, "die Beine; ich kenne euch, kenne eure Sports, die Sitten der neuen amerikanischen Generation; ihr mögt die Beine lieber als die Hände, das Wichtigste sind euch die Beine, die Waden! Sport! Waden, Waden", schmeichelte er mir fürchterlich, "Waden, Waden, Waden!"

Und so, wie er in der Schulpause den Pennälern das Problem der Unschuld zuschob, das sie wild machte und ihre Unreife um das Hundertfache vergrößerte, so schob er mir jetzt die modernen Waden zu. Und ich höre mit Vergnügen zu, wie er meine Waden mit den Waden der jungen Generation zusammentut, und fühle bereits die Grausamkeit der Jugend gegen alte Waden! Und darin war eine Art Kameradschaftlichkeit der Waden mit der Oberschülerin, plus heimliches, wonniges, wadiges Einvernehmen, plus Patriotismus des Beines, plus junge Wadenfrechheit, plus Poesie des Beins, plus jugendlicher Wadenstolz und Wadenkult. Satanischer Körperteil! Ich brauche nicht zu erwähnen, daß alles in aller Stille hinter dem Rücken der Oberschülerin vor sich ging, die am Fenster stand mit ihren gleichaltrigen Waden und nichts ahnend an ihrer Haut pulte. ("Ferdydurke")

Stefan: Sie will ihn nicht, sie will ihn nicht - aber er will sie ja auch nicht, zum Teufel! Die Wade, straff, geschmeidig, faszinierend, ganz künstlich natürlich - und Witold, wie steht er da in seiner natürlichen Künstlichkeit. Er weiß um die Fresse, er weiß, daß die Moderne ihm eine Fresse macht. Und er muß da gaffen auf die klare, moderne Dummheit des Wadenliberalismus. Das hat ihn, das nimmt ihn mit. "Eine Jugend, die keinerlei Ideale brauchte, weil sie sich selbst ein Ideal war." ("Ferdydurke") Kurz, die Jugend von heute, die Jugend der Wade.

In diese Wade stößt er seinen Sporn Ö eine Wohltat. Aber erst ist er hingerissen und ich, mein Lieber, mit ihm. Die ganze Klaviatur der modernen Jugend, die jugendliche Modernität, das ist fremd, das ist fremd und schön zugleich.

Hermann: Ja, ja, ja, "schön", "fremd", "faszinierend", "abstoßend", "zugleich", das klingt souverän, aber das ist die Souveränität des Voyeurs, mon cher. Ich glaube, es ist lange her, daß Sie von einer Modernen Oberschülerin, oder gerne auch von einem Modernen Oberschüler, so richtig aus der Fassung gebracht worden sind. Nix Faszination, nix Glitzer. Das ist grausam, das ist Marter!

Und daher ist das, was mich an dem Roman "Ferdydurke" so hinreißt, wie der Gombrowicz (hier in Gestalt des Jozio) die Moderne Oberschülerin austrickst. Jaaaa, das ist es: immer in die Fresse! Da kriegt sie nämlich zurück. Schauen Sie, diese stupide Moderne Oberschülerin, dieses fiese girl, reizt ihn mit ihrer Wadenfrechheit bis aufs Blut. Und der arme Jozio ist drauf und dran, völlig durchzudrehen, entblödet sich auch nicht, einen Modernen Oberschüler zu spielen, so die Beine überzuschlagen, sich so in einen Sessel hineinzulümmeln - und? wird entdeckt! Poseur geschimpft! Ahhh, wie grausam!

Da findet er eines Abends einen Ausweg aus seiner Fresse, eine Lücke in der Oberschülerin, eine Situation, deren Regisseur er wird. Es beginnt damit, daß er einer Fliege die Flügel ausreißt und sie in den Tennisschuh der Modernen Oberschülerin setzt. Damit gelingt es ihm, die Oberschülerin ins Eklige, Niedere, ins Schreckliche hinabzuziehen.

Diese Inszenierung sprengt die fertige Prägeform der Modernen Oberschülerin. Die Moderne bricht zusammen, die Wadenfrechheit platzt, Jozio hat ihr eine Fresse gemacht und ist seine los geworden. Das hat mir gefallen.

Stefan: Ich weiß nicht, werter Freund, Sie sehen so wenig das Reizende der Oberschülerin, das in ihrer Leere und Nullheit liegt. Sie ist ganz eine Heutige, eine Zeitgemäße.

In späteren Romanen der argentinischen Zeit, wie "Pornographie" und "Kosmos", aber auch schon in seinem kombinierten Tennis- und Schauerroman "Die Besessenen" von 1939 konstruiert Gombrowicz übrigens noch viel raffiniertere Typen von Jugend. Die Sterilität der Oberschülerin plus die popoisierte Unreife der kindischen Jugend plus die ewige Verlobtheit der konservativen Jugend plus die schweißige Bengel-Erotik des Bauernbengels aus "Ferdydurke". Das alles zusammen. Und nun wird der Erwachsene, gespannt zwischen Gott und dem Jungen, wie Gombrowicz sagt, endgültig hinabgezogen, dem Jungen sei Dank.

Hermann: Und ob ich das Reizende von Gombrowiczs Moderner Oberschülerin sehe. - Und ich weise den Pauker Pimko von mir, der sich in die Gegenwart der Modernen Oberschülerin nur begibt, wenn er sich zuvor mit einer Rüstung aus klassischen Versen, Gedichten und Aphorismen gepanzert hat.

Sehen Sie, in "Ferdydurke" gibt es neben den Modernen Oberschülern eine andere Jugend. Sie ist, weit entfernt vom Dancing, vom Weekend, von der Stilisierung der Wade, auf dem Lande beheimatet, jenseits eines weltweiten, durch Magazine und Filme in Verbindung stehenden Stils aus frechen Frisuren und Hosen mit gemachten Löchern an bestimmten Stellen.

Verstehen Sie mich nicht falsch - die Dummheit des Bauernbengels, daß er sich immer wieder in die Fresse schlagen läßt, ist mir nicht weniger suspekt als die Dummheit der Modernen Oberschüler, die sich gerade durch die bewußte Stilisierung von jugendlicher Wildheit dieser Substanz berauben, sie zum ästhetischen Attribut verkommen lassen.

Nur kommt es mir so vor, als berge der Bauernbengel jene anarchische Substanz in höherer Dosierung in sich. Sie muß bloß erst in ihm entfesselt werden.

Welche Jugend entdeckte er, als er in Gesellschaft der arrivierten Studenten in Westberlin seinen Whisky trank? - Sie erinnern sich seiner Tagebuchaufzeichnung aus dem Jahr 1964?

Stefan: Die Party damals in Westberlin. Es ist eine Party, der wir immer wieder beiwohnen. Da sah Gombrowicz die Hand des jungen Deutschen. Die Hand, ein mit Bewußtsein begabtes Körperteil, präzise und vielfältige Bewegungen, höchste Flexibilität, aufgeladen mit feiner Bewegung, die Bewegung selbst, Handlung, Macht. Ein in der üblichen Hierarchie mächtiges Körperteil und daher ein von Gombrowicz sehr verachtetes.

Als ich das halbdunkle Etagenatelier betrat und die nordische Jugend sah, die sich auf Sofas breitmachte, in den Ecken stand, wurde mir sofort klar, daß sie an die eigenen Hände gefesselt waren, die Hände waren das Stärkste, sie erfüllten den Raum, sich lockernd oder verdichtend, kräftig, groß und sauber, mit exakt geschnittenen Fingernägeln, zivilisiert. (...)

Verbrecherhände? Aber nein, sie sind doch neu, unschuldig Ö Neu und nicht dieselben, und trotzdem doch die gleichen Ö Wo ist der Unterschied? Nicht die gleichen Augen, Haare, Münder, nicht das gleiche Lachen? Ein goldblauer Blonder reicht mir freundschaftlich ein Glas Whisky, aber diese Hand wurde mir von dort gereicht, die Augen betrachteten mich von dort Ö Jemand anders legte mir die Hand auf die Schulter, und das war brüderlich, aber die Brüderlichkeit, auch sie von dort, war der Tod Ö ich weiß nicht, kameradschaftlich oder feindlich Ö Und im selben Augenblick zuckte ein wunderhübsches Mädchen lustig die Schultern, um die Liebe ging es, die Liebe, ja, aber auch Jenes war Liebe gewesen, ein Wald, ein Wald von eroberungslustig ausgestreckten Händen, liebevoll, Heil, schaffende Hände!

Dummheit! Fort damit! Hirngespinste! Wie europäisch sie sind (so ein Europa habe ich in Paris nicht gesehen), ruhig und ungezwungen, keine Spur von Chauvinismus oder Nationalismus, weite, weltoffene Horizonte, ja, das war die modernste Jugend, die ich je gesehen hatte. Sie verdrängten die Vergangenheit nicht einmal, man sah im Halbdunkel, daß Jenes nicht mehr ihre Sache war, sie waren etwas Anderes und Neues. Sich lösen! "Komm, gehen wir, was soll dir ihr Achilles!" Eine von niemand geborene, elternlose Jugend ohne Vergangenheit, im Vakuum - nur daß sie immer an die eigenen Hände gefesselt waren - die allerdings nicht mehr töteten, sondern mit Diagrammen und Rechnungen, mit Fabrikation und Produktion beschäftigt waren. (...)

Die völlige Leere, die tödliche Stille dieser Hände wurde mir erst klar, als ich ihrer auf diesem Empfang ansichtig geworden war. ("Tagebuch")

Stefan: Er löst die Hände heraus, trennt sie ab, isoliert sie. Er analysiert. Er schneidet Teile heraus und stückelt. Das ist Perversion und Kalkül zugleich. Die Fixierung ist doch immer auch Bannung. Ganz ähnlich den Fetischen sind die Körperteile Stellvertreter oder Magnete von Kräften.

Die Hände sind wirklich erwachsene, der Vollkommenheit, also dem Tode angehörige Teile, zum Töten fähige Instrumente. Beschworen und gebannt. Alle Macht des Todes, aller ekelerregende Mord - im Gegensatz zum schönen, jugendlichen Mord - liegt in den Wurstfingern des Priesters. Hören Sie:

Die Sünde, oder eigentlich ein Kollege, der Kollege Priester, wurstelt mit den Fingern, weil er etwas mit dem Gewissen hat. So wie ich! Kollegialität und Bruderschaft, wie ihm das fummelt und fummelt mit diesen Wurstfingern, was haben die bloß, vielleicht haben sie auch erwürgt? Ein Andrang völlig neuer Stauungen, Einstürze, eines neuen, wundervoll grünen, ruhigen, dunkel lärchigen, kiefernen, verträumten Wallens mit Himmelblau, Lena vor mir, mit den Händen, und dieses Händesystem - meine Hände, Lenas Hände, Ludwiks Hände - bekam eine kräftige Spritze in Form der wurstfingrigen Priesterhände, was ich nicht genug beachtete, wegen der Fahrt, den Bergen, Abseitigkeit, heiliger Gott, barmherziger, weshalb kann man nichts richtig beachten, die Welt ist hundertmillionenfach zu reichlich.

Hermann: "Hundertmillionenfach zu reichlich" - das ist doch aus seinem letzten Roman, "Kosmos", ein Text aus Lippen und Gehängtem. Witold in den Bergen, mit drei frisch vermählten Paaren in einer Hütte, zu Abend essend, an einem Tisch mit Priesterhänden, Gattenhänden, erotisch-anerotisch belasteten Ekelstücken, zwangserotisch belasteten Undingern. "Die Welt ist hundertmillionenfach zu reichlich." Doch aus dieser Fülle ragen immer wieder Lippen, Münder hervor, Lenas Mund:

Es war eng. Das Zimmer war zu klein. Lenas Mund, verschlossen und einen Spaltweit geöffnet, seine Schüchternheit ... und nichts weiter mehr, wir gingen nach oben. (...)

Es wird schon kühler. Ich sah mich um, sie war nicht mehr da, sie war mit ihrem ausschweifenden Mund weggegangen und war dort irgendwo mit ihrem Mund. ("Kosmos")

Hermann: Witold, angeekelt, mit den Möglichkeiten der Lippen, mit ihrem Spaltweit-geöffnet-Sein kämpfend und gleichzeitig davon erwärmt. Er entdeckt einen gehenkten Spatzen; von einer Zwangsvorstellung getrieben, henkt er einen Kater. Sein Beziehungswahn lockt ihn auf einen Baum, von dem Ludwik herabhängt. Witold steckt dem Hängenden den Finger in den Mund. Und endlich hat er in der Fülle der Beziehungen zwischen den Indizien eine Ordnung geschaffen, das System der Lippen und Münder mit dem Gehängten verknüpft. Er wischt sich den Finger am Taschentuch ab. Gleich wird er wieder naß, diese Beziehung muß noch verstärkt werden am lebenden Priester. Auf einem Spaziergang steckt Witold auch ihm den Finger in den Mund. Und wischt ihn am Taschentuch wieder ab.

Stefan: Kosmos des Wahns gegen Chaos der Welt. Ich freue mich, lieber Kollege, daß wir nun endlich die Kellertreppe hinabsteigen. Der Himmel ist leer, wenden wir uns also nach unten, da kraucht und krabbelt es.

Hier diktiert der Beziehungswahn die Struktur und stiftet Ordnung. Eine höchst absonderliche Ordnung, die dieser strukturalistische Autor, Witold Gombrowicz, da erdacht hat. Zwei Paradigmenreihen, sich überkreuzend. Nicht umsonst wird eine der beiden von einem bestimmten Körperteil dominiert. Es entstehen von Lippen markierte Räume. Lippen, Lippe, edler Körperteil, der zu ziemlich unanständigen Dingen fähig ist. Ich gestehe, daß mich die unanständigen Dinge am meisten interessieren.

Hermann: Mon Dieu! Mir wird ganz schwindelig! Dieses Kreisen des Herrn Gombrowicz um die Körperöffnungen: In der frühen Erzählung "Begebenheiten auf der Brigg Banbury" ist der Steuermann in größter Versuchung, den Matrosen in den Arsch zu treten. Einer der Matrosen verschluckt ein Tau und zieht es, "infolge der wurmartigen Tätigkeit der Speiseröhre", in sich hinein. In "Ferdydurke" werden die Kinder verpopoisiert; der Schüler Syfon wird durchs Ohr vergewaltigt. In "Kosmos" will Witold Lena in den Mund spucken; der Leiche und dem Priester steckt er seinen Finger in den Mund Ö Ja, was ist denn das, dieses drisselige Schwirren um die Öffnungen? Sie, lieber Freund, was ist mit Ihnen, sind Sie angeekelt? Beschwingt? Guter Dinge? So sagen Sie doch etwas!

Stefan: Beschwingt, mein Lieber, vor allem beschwingt. Im Karussell der Körperteile blickt man, je höher die Beschleunigung des Kreisels wird, je mehr man nach außen gedrängt wird, desto mehr in die Mitte. Die Mitte wird scharf, während der Rand an Schärfe verliert. Und das ergibt eine schöne Logik, daß die Öffnungen, die Körperöffnungen, so zentral liegen.

Gegen sie, die Öffnungen, die Löcher, werden erotische und aggressive Attacken geführt, die Texte sind Krater mit geheimnisvoller Öffnung in der Mitte. O Untiefe, Lippen kreisen um den mittleren Körperteil, den Mittelpunkt, den Popo. Das gefällt mir sehr.

Und, die Kinder sind schon zu Bett, die Exekutive hat sich zur Ruhe begeben, nun können wir's ja sagen: Keineswegs ist der Popo, der zentrale Popo, lediglich Sinnbild der Verkindlichung. Er ist nicht nur das. Es ist auszusprechen, daß der Popo durchaus auch erotische Anziehungskraft hat, daß hier Analerotik und Homosexualität liebenswürdig in der Popoisierung sich zu Worte melden. Lust zerbricht Form, sie schafft aber auch neue Form. Die Struktur des Ganzen ordnet sich um den Popo an.

Seht: der grundlegende Körperteil, der brave, bezähmte Popo, ist die Grundlage, mit dem Popo beginnt daher die Handlung. Vom Popo, wie von einem Stamm aus, verteilen sich die einzelnen Körperteile wie Äste. ("Ferdydurke")

Hermann: Wissen Sie, lieber Stefan, was mich an den Romanen des Herrn Gombrowicz verwundert hat, ist, daß Witold, das Ich aller Romane, stets Voyeur bleibt. Er nimmt sich einen Kollegen zur Seite, der den Part des Perversen, Päderasten, Homosexuellen aufgetragen kriegt, einer, der das Spiel der Perversionen betreibt und zielstrebig den Popo ansteuert.

Stefan: Ich gebe Ihnen durchaus recht, wenn Sie sagen, daß der Wahrnehmer und Erzähler eigentümlich zurückhaltend bleibt, daß die großen Verführer und Versucher immer die anderen sind. Aber bedenken Sie doch auch die Geschicktheit der defensiven Taktik, mit der Gombrowicz dem Niederen zu einem Körper verhilft. Immer stimmt er erst der fetten Ordnungsmacht zu, den Alten und Gewichtigen, er verhält sich passiv, kniet gar vor ihnen, aber das alles doch nur zum Schein, um der Sache auf den Grund zu gehen. Die Moral, die Kunst, der Krieg, das Vaterland, die wichtigen Dinge. Er scheint von ihrer Bedeutsamkeit überzeugt, bis er - und nun gar nicht mehr zurückhaltend - vorstürmt, herunterreißt, vom Vaterland zum Sohnland eilt.

Sohn, Sohn, Sohn! Zum sohne eilen, fliehen wollte ich. Im Sohne ist meine linderung, meine erquickung! Wie hat es mich da in jenem Unterirdischen Verlies nach seinen roten, frischen wangen verlangt, seinen lebendigen glänzenden augen, seinen hellen locken, und wie hätte ich mich beruhigt und erquickt in seinem Walde und am Flusse. Hier, unter diesen monstern, ja auf der ganzen Gotteswelt, oder ach, viel mehr Teufelswelt hatte ich keine andere Stütze noch Stab, keine andere quelle in meiner Leere und Dürre als jenen Sohn, den säftereichen. ("Trans-Atlantik")

Stefan: Nun sehen Sie mal, vor welcher Kulisse sich all dies ereignet. Da stelle ich Ihnen große Dekorationen in Grau und Schwarz hin.

Der Weltkrieg ist Gombrowiczs Statisterie in "Trans-Atlantik" und "Pornographie", der Weltkrieg nimmt Gombrowiczs billigen Kinkerlitzchen auch den letzten Wert, ja, die intensive Beschäftigung mit winzigsten Winzigkeiten, mit Ornamenten und Steinchen und Stäubchen, wird zu einer höchst monströsen Beschäftigung. Wenn Millionen von Menschen geschlachtet werden, dann der Zertretung eines Wurms ausgedehnte Betrachtungen widmen! Der Weltkrieg ist drohend-dröhnend, fernes Grollen, nachhallendes Pathos, ferne Umwandlungen, Umformulierungen.

Endlich ist die durch Sonne zum Erliegen gebrachte Landschaft in Gombrowiczs letztem und bösestem Buch "Kosmos" der allgegenwärtige Tod. Es ist eine "chloroformierte" Landschaft, in der kaum mehr überleben kann als Witolds Phantasmen. Da fällt mir Ihr Grinsen auf, Sie alter Lüstling!

Hermann: Muß das denn sein? - Lieber Stefan! Außerdem wissen Sie doch selbst, in unserem Alter - eine unsauber eingepaßte Prothese, und schon kriegt man diesen Einschlag ins Krötige.

Und übrigens: An Ihrer Dickfingrigkeit hätte der Herr Gombrowicz auch seine helle Freude gehabt. Aaah jaa! Da sehe ich diverse Möglichkeiten im Rahmen Ihrer betagten Wurstfingrigkeit. Stillgehalten! Ich lese Ihnen den Pelz, so lassen Sie mich doch, es inspiriert mich und leitet über zur Hand von Gonzalo im Roman "Trans-Atlantik":

Und schon längst wäre ich fortgelaufen, aber es hätte mir leidgetan, meinen einzigen gefährten zu verlassen. Denn er war ein Gefährte. Allerdings, so mit ihm zusammen unter dem Baum, da war mir doch etwas sonderbar zumute, denn er war nicht Fisch noch Fleisch. So hatte er denn schwarze männliche härchen auf der hand, aber die hand das Händchen war Schwellend, Weiß Ö und gewißlich auch der fuß Ö und obgleich seine Wange dunkel war vom bartwuchs, so schmeichelt und lockt doch diese Wange, als wäre sie nicht Dunkel, sondern eben weiß Ö (Ö) Er will sich also gleichsam selbst nicht und Verwandelt sich in der nächtlichen stille, und man weiß nicht mehr recht, ist es ein Er oder eine Sie Ö und weil er wohl das eine nicht ist und auch nicht das andere, so hat er den anschein eines Wesens und nicht eines menschen Ö ("Trans-Atlantik")

Stefan: Ich gebe eine Verwandtschaft meiner Hand, meiner selbst mit dem Puto zu. Immerhin, ein Händchen wie ein Waschlappen, zu Taten und Eroberungen wenig geeignet. Und da, auf dieser feisten, weichen Hand wachsen schwarze Haare. Das kommt einem Widerspruch gleich und es bleibt nicht der letzte Widerspruch.

Dieser Schwule, dieser Invertierte, nicht Mann, nicht Frau, ist Auslöser sich beißender Widersprüche. Alles an ihm widerspricht sich, blitzende Paradoxie, Unausstehlichkeit, Aufgescheuchtheit, sich nie beruhigender Widerspruch. Das beißt sich!

Hermann: Das perverse Händchen, das hinterlistige und schlau wurstelnde - nichts hat es ins Gemeinige mit jenen Händen der modernen Jugend, auf die Gombrowicz nach seiner Rückkehr aus dem argentinischen Exil in Westberlin stieß. Doch obgleich nicht zu Eroberungen und offenen Schlägen ins Gesicht geeignet, ist es doch eine fingrige Hand. Ihre Lust am Verwirklichen versucht sich nicht an Diagrammen oder an der Produktion von Software. Sie arbeitet verdeckt, schlägt tief, greift von hinten, zündet an, verführt, erschreckt und fummelt.

Im perversen Puto, der Ignaz, den Sohn Polens, verführen will, erblickt der Patriot Gombrowicz seine Chance, Polen zu befreien, das Wummen Ignazens und Wammen Horatios unmerklich bis zum Mord am Vater zu steigern. Der Roman endet im wilden, niederreißenden Tanzspektakel, in einem Strudel, der, in Argentinien entstanden, das ja bekanntlich auf der Südhalbkugel liegt, in Polen für die gewünschte Aufregung sorgte.